Endlich ist es soweit: Lisa zieht in ihre erste eigene Wohnung. Jahrelang hat sie mit Mara und Markus in einer WG gelebt, nun geht die gemeinsame Ära zu Ende. Während Lisa dem Umbruch entgegensehnt, löst er in Mara ein Wechselbad der Gefühle aus. «Das Mädchen und die Spinne» ist der zweite Teil einer Trilogie der Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher über menschliches Zusammensein.
Das Mädchen und die Spinne
Ein tragikomischer Katastrophenfilm, für den die Regisseure mit gleich zwei Preisen an der diesjährigen Berlinale ausgezeichnet wurden.
arttv Rezensionen
«Es ist ein ‹anderer› Film, der sich in keine Kategorie einordnen lässt: «Das Mädchen und die Spinne» ist ein Zustand: äusserlich bewegt sich wenig, umso mehr in den Seelen und Gefühlen der anwesenden Personen. Es gibt nur einen Fakt: Lisa (Liliane Amuat) zieht aus, ihre Schwester (Henriette Confurius) bleibt zurück. Es wird gezügelt und die Wohnung wird zum Ameisenhaufen, es ist eng, emsiges Hin- und Her von Freundinnen, der Mutter (Ursina Lardi), es wird gepackt, in Kisten verstaut, Handwerker renovieren, die Nachbarn tauchen auf, bringen ihre Kinder mit, ein Durcheinander herrscht und doch gibt es eine Art Logik. Es ist eine Inszenierung, die ab und zu ballettartig daherkommt, oder wie in einem Theater, keine abrupten Bewegungen, alles ist fliessend. Und doch sind die Emotionen, die der Wegzug von Lisa auslösen – vor allem bei Mara – das Fesselnde in diesem Film. Ob es um erotische Regungen, Begehrlichkeiten, Sehnsüchte, Ängste, Sympathien, aber auch um das Wissen, dass die Zeit Veränderungen nicht aufzuhalten ist. Es gelingt den Zwillingsbrüdern Ramon und Silvan Zürcher eindrücklich, uns mit ihrer poetischen Umsetzung des Geschehens zu fesseln, mit ihren zum Teil märchenhaften Dialogen von einer realen Ebene in eine Leichtigkeit hineinzuführen, in der wir gerne verharren.
«Das Mädchen und die Spinne» ist ein äusserst sorgfältig komponierter Film, der auch grossen Wert auf die Tonspur setzt, wo Geräusche und Töne ihren Platz haben. Das ist hier ziemlich auffällig und trägt einen guten Teil zur Verzauberung bei. «Das Mädchen und die Spinne» hat dieses Jahr an der Berlinale in der neu geschaffenen Sektion «Encounter» den Regiepreis gewonnen. Diese Sektion soll «ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform bieten». Dazu kann man den 39-jährigen Brüdern Zürcher aus Aarberg nur gratulieren.» Madeleine Hirsiger, arttv.ch
«Encounters» heisst bezeichnenderweise die neu geschaffene parallele Wettbewerbssektion junger Talente an der Berlinale, in der Ramon und Silvan Zürcher im vergangenen März den Regiepreis gewannen. Und war schon «Das merkwürdige Kätzchen», fulminanter Erstling der Zwillingsbrüder, im Grunde eine ungeheuer verdichtete, 70 Minuten lange Abfolge von Begegnungen, sind diese im neuen Film noch intensiver geworden. Während sich im ersten Film das ganze Geschehen innerhalb einer Patchwork-Familie an einem Frühstückstisch ausschliesslich in Innenräumen abspielte, verlagert es sich in «Das Mädchen und die Spinne» von einer Wohnung in eine andere und wieder zurück – der Raum hat sich geöffnet. Das titelgebende Mädchen Mara hadert mit der Tatsache, dass Lisa, ihre WG-Genossin aus der gemeinsamen Wohnung auszieht. Wie zwei ineinander verkeilte Erdplatten sei diese sich an einem Umzugstag auflösende Freundschaft, ein ständiges Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, erklären Ramon und Silvan Zürcher in einem Interview die vordergründig schlichte Grundidee des Films. Formal erzeugt er, abgesehen von der stupenden Präsenz der beiden Protagonistinnen, der Deutschen Henriette Confurius (Mara) und der Schweizerin Liliane Amuat (Lisa), seine Spannung aus der fast ausschliesslich statischen Kamera, die mit dem dynamischen Geschehen zwischen allen Beteiligten stark kontrastiert. Neben den beiden Hauptdarstellerinnen sind dies die Mutter von Lisa, ein polnischer Umzugsarbeiter und sein Gehilfe, Nachbarinnen, der WG-Genosse von Mara sowie eine Vormieterin. In millimetergenau kadrierten Einstellungen schafft Kameramann Alexander Hasskerl, der bereits «Das merkwürdige Kätzchen» visuell veredelt hatte, das ständige Kommen und Gehen der Figuren zu einem reinen optischen Vergnügen zu machen. Der Minimalismus der Geschichte verschwindet dabei in raffinierter Weise, und wenn an mehreren Stellen der Plan von Lisas neuer Wohnung – von Mara zeichnerisch zunehmend mit Leben gefüllt – ins Bild rückt, wird so der Vorrang des Bildnerisch-Architektonischen vor dem Erzählerisch-Dramatischen noch akzentuiert. Dabei bleibt «Das Mädchen und die Spinne» ein hoch dramatischer Film, etwa in der emblematischen Szene, in der Mara das titelgebende Tier auf Lisas Schulter entdeckt, das filigrane Ding dann sanft auf ihren Handrücken krabbeln lässt, um es daraufhin ganz selbstverständlich Lisa zu übergeben und dabei sachte deren Hand zu streicheln. So viel beiläufige Zärtlichkeit war schon länger in keinem Kinofilm mehr zu sehen. Geri Krebs, arttv.ch
Zum Film
Lisa zieht aus, Mara bleibt zurück. Während Kisten geschleppt, Wände gestrichen und Schränke aufgebaut werden, tun sich Abgründe auf, lassen Sehnsüchte den Raum anschwellen und ein Begehrenskarussell nimmt immer mehr Fahrt auf. In ihrem zweiten Film komponieren die Schweizer Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher ein poetisches Panoptikum menschlicher Beziehungsformen, das sich zwischen Alltagsstudie, Märchen und Psychogramm einer brüchig gewordenen Welt bewegt. Nach ihrem Berlinale-Hit «Das merkwürdige Kätzchen» (2013) ist «Das Mädchen und die Spinne» der zweite Teil einer Trilogie über menschliches Zusammensein. Ein tragikomischer Katastrophenfilm. Eine Ballade über das Verlangen nach Nähe und den Schmerz von Trennung, über Veränderung und Vergänglichkeit.
Weitere Stimmen
«Mit genauem Blick auch für kleine und kleinste Details, für Blicke und kleine Gesten vermisst der Film seine winzige Welt und erstellt eine Kartographie der Untiefen und Bruchlinien der Menschen, die diese Welt bevölkern, die hier ein- und ausgehen, ankommen und wieder verschwinden oder die vielleicht niemals wirklich da waren.» – Joachim Kurz, Kino Zeit | «Mit nur zwei Filmen haben die Zürchers einen völlig eigenen ästhetischen Kosmos gebaut, den Regeln des narrativen Kinos eine Art filmische Quantenphysik entgegengesetzt. Mit der sind sie einer Chaostheorie des Sozialen auf der Spur, in der menschliche Handlungsmacht blosser Effekt eines Begehrens zu sein scheint, das die Figuren eher mitreisst, als ihnen zu gehören oder zu gehorchen.» – Till Kadritzke, critic.de