Mit LOLA RENNT traff Tom Tykwer 1998 den Zeitgeist, machte sich und auch seine zwei Hauptprotagonisten Franka Potente und Moritz Bleibtreu auf einen Schlag international bekannt. Es folgten die grossen Literaturverfilmungen von Patrick Süskinds DAS PARFUM und David Mitchells CLOUD ATLAS. Mit seiner Wahlheimat Berlin verbindet ihn die erfolgreiche Fernsehserie BABYLON BERLIN. In seinem neuen fast dreistündigen Kinomärchen erhebt er eine Syrerin zur Retterin in einer verkorksten deutschen Familie.
DAS LICHT
DAS LICHT | SYNOPSIS
Eine typisch deutsche Familie in einer Welt, die sich immer schnell dreht und ins Wanken geraten ist: Tim (Lars Eidinger), Milena (Nicolette Krebitz), die gemeinsamen Zwillinge Frieda (Elke Biesendorfer) und Jon (Julius Gause) sowie Milenas Sohn Dio (Elyas Eldridge) – das sind die Engels. Eine Familie, die mehr nebeneinander als miteinander lebt und die nichts mehr zusammenhält, als die Haushälterin Farrah (Tala Al-Deen) in ihr Leben tritt. Die geheimnisvolle Frau aus Syrien stellt die Welt der Engels auf eine unerwartete Probe und bringt Gefühle zu Tage, die lange verborgen waren. Dabei verfolgt sie einen ganz eigenen Plan, der das Leben der Familie Engels grundsätzlich verändern wird.
Rezension
Von Geri Krebs
Es regnet fast immer in diesem Berlin und wenn es mal nicht regnet, dann ist es meistens Nacht. So auch in der Eröffnungsszene, als eine über der Stadt schwebende Kamera an die Fassade einer Plattenbauwohnung gleitet und schliesslich auf einen Balkon fokussiert, auf dem eine Frau mit dem titelgebenden Licht beschäftigt ist. Was es damit auf sich hat und wer die Frau ist: das erschliesst sich erst im Laufe eines ziemlich wilden Ritts durch eine Stadt, die, so Tom Tykwer an der Pressekonferenz, allein schon wegen ihrer immer neuen Baustellen und ihrer unzähligen Dauerprovisorien eine ungeheure Faszination auf ihn als Filmemacher ausübt.
Die Engels
Die Familie, die in der ersten Hälfte von DAS LICHT ganz im Zentrum steht und auch danach das erzählerische Rückgrat bildet, lebt in einer riesigen Altbaubauwohnung im Trendquartier Prenzlauer Berg. Eben dort, wo Berlins gut situierte linksgrüne Mittelschicht gerne wohnt. Mit dem bezeichnenden Namen Engels könnte man da natürlich sofort den kommunistischen Theoretiker Friedrich Engels assoziieren, aber man könnte ebenso den letzten Buchstaben weglassen und dann landet man wohl bei den beiden Protagonisten aus DER HIMMEL ÜBER BERLIN, dem unbestrittenen Meisterwerk unter allen Berlin-Filmen. Aber Vater Tim Engels (ein ewig zerzauster Lars Eidinger), seines Zeichens Werbefachmann in einer Agentur für Nachhaltigkeit und Mutter Milena Engels (stark: die auch als Regisseurin bekannte Nicolette Krebitz), Projektleiterin in der Entwicklungszusammenarbeit und in dieser Funktion häufig in Kenia unterwegs, sind alles andere als Engel. Vielmehr sind sie heillos zerstritten, ja hoffnungslos voneinander entfremdet. Zwar gehen sie in eine Paartherapie, doch die Therapeutin ist bei den beiden oft mit ihrem Latein am Ende. So fragt sie gelegentlich, ob sie eigentlich zu ihr kommen, weil sie sich trennen wollen – oder aber, weil sie zusammenbleiben möchten.
Therapielampe im Gepäck
Entfremdet haben sich Tim und Milena auch von ihren Kindern, den 17-jährigen Zwillingen Jon und Frieda. Die leben ganz in ihrer eigenen Welt, Jon in der von Virtual Reality und Frieda in der von Raves und Totalopposition. «Wir sind der Grund, warum die Welt am Abgrund steht», ist so ein Lieblingssatz aus dem Repertoire von Frieda. Tom Tykwer lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm in seinem neuen Film – dem dritten in seiner Karriere, der die Berlinale eröffnet (nach HEAVEN von 2002 und THE INTERNATIONAL von 2009), ums grosse Ganze und dabei vor allem um einen emphatischen Blick auf die Generation Z geht. Zu diesem empathischen Blick gehört natürlich auch, dass Geflüchtete nur im besten Licht dastehen. Was hier ganz wörtlich zu nehmen ist, denn die eingangs erwähnte Frau, die aus Syrien geflüchtete Ärztin Farrha, ist es, die bei den Engels eines Tages als Haushalthilfe tätig. Mit ihrer merkwürdigen Lampe, deren intensiv blinkendes Licht in Trance versetzen und Nahtoderfahrungen vermitteln kann, bringt sie so einiges in Bewegung. Im Gespräch an der Berlinale verriet Tom Tykwer, dass derartige Therapielampe auch in Wirklichkeit existieren.
Fliessende Übergänge
Der 1965 geborene Tom Tykwer war schon immer einer, der in seinen Filmen gerne ausgiebige technische Spielereien einsetzte, angefangen bei LOLA RENNT bis hin zu seinem letzten Kinofilm HOLOGRAM FOR A KING. So rührt Tykwer nun auch hier wieder mit der ganz grossen Kelle an, spielt mit sichtlicher Lust mit allem, was das digitale Zeitalter hergibt und kreiert so einige bezaubernde Szenen ins dramatische Geschehen. So lässt er Jon zusammen mit seiner ersten grossen Liebe vom Tanz am Spreeufer in ein minutenlanges Schweben über dem Fluss übergehen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. An anderen Stellen verwandelt er die Geschichte so unvermittelt in Animation, wie man das in solcher Perfektion noch kaum je gesehen hat. Oder dann lässt er zum Finale furioso die Geschichte von Farah und ihrer Familie in so intensiven Unterwasseraufnahmen lebendig werden, dass einem dabei der Atem stockt.
Fazit: Mit DAS LICHT will Tom Tykwer eine ganz grosse Geschichte seiner Generation und die seiner Kinder erzählen. Das ist ihm zwar gelungen, der Film langweilt trotz seiner fast drei Stunden Dauer nie, aber dennoch wäre weniger wohl mehr gewesen – und vor allem etwas weniger Moral und dafür etwas mehr Ironie.