Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Paola Cortellesi ist eine der dynamischsten und vielseitigsten Kulturschaffenden Italiens. Ihr Regiedebüt proklamiert keinen Feminismus mit erhobenem Zeigefinger, sondern erzählt von den vielen kleinen Schritten auf dem langen Weg zur Emanzipation. Es ist ein lakonischer, schulterzuckender Humor, mit dem die Frauen angesichts tyrannischer Männer im Italien der Vierzigerjahre zusammenhalten.
C'È ANCORA DOMANI
Mit über 5,3 Millionen Besucher:innen war die Tragikomödie 2023 der besucherstärkste Film des Jahres in Italien.
C’È ANCORA DOMANI | Synopsis
Rom, 1946, nach der Befreiung vom Faschismus. Delia ist die Frau von Ivano und Mutter von drei Kindern. Zwei Rollen, die sie mit Hingabe erfüllt. Ivano fühlt sich berechtigt, alle daran zu erinnern, wer der Ernährer ist. Körperliche und seelische Gewalt gehören für Delia zum Alltag. Bis ein mysteriöser Brief eintrifft, der ihr den Mut gibt, alles über den Haufen zu werfen …
Rezension
Von Djamila Zünd
Im Italien der Nachkriegszeit stellt sich Delia wie viele andere Frauen den Herausforderungen eines Lebens in einer armen Familie. Jeden Tag jongliert sie zwischen Hausarbeit und der Suche nach Mitteln und Wegen, um ihren Haushalt zu finanzieren. Stoisch erträgt sie die Wutausbrüche ihres Mannes und seinen Alkoholismus, während sie die Augen vor seinen Bordellbesuchen verschliesst. Delia reagiert, wie andere Frauen ihrer Gemeinde, mit Humor, Ironie und Verzweiflung auf das Verhalten ihres Ehemannes und rechtfertigt ihn damit, dass er «schliesslich zwei Kriege erlebt» habe. Sensibel und kraftvoll lässt uns Paola Cortellesi in Delias Alltag eintauchen, in dem die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern mehr subtil angedeutet als dramatisiert werden. Der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern oder das von Männern geforderte Schweigen in der Familie werden im Drehbuch zurückhaltend angedeutet.
Toxische Verhaltensmuster
Obwohl ihre Familie eigentlich ihr Fels in der Brandung sein sollte, sieht sich die Protagonistin ironischerweise mit einer ganz anderen Realität konfrontiert. Die Tochter hinterfragt Delias Toleranz gegenüber dem gewalttätigen Ehemann, während ihre Söhne die toxischen Muster früherer Generationen fortsetzen. Die Regisseurin spricht auf subtile Weise Probleme an wie die Weitergabe von psychischer und physischer Gewalt, Lohnunterschiede und das Recht, gehört zu werden. Gewaltszenen deutet sie lieber im Hintergrund an oder macht sie durch Reaktionen der Nachbarinnen im Hof verständlich oder durch einen unheimlichen Tango. Die Frauen sind oft von familiären Verpflichtungen und ihrem Überlebenskampf absorbiert. Indem das im Film mutig gezeigt wird, hilft das zu verstehen, warum diese Frauen weder Zeit noch Kraft finden, ihre Situation radikal zu ändern, obwohl sie eindeutig unhaltbar ist.
Italienischer Neorealismus in neuem Gewand
In C’È ANCORA DOMANI ist jedes Detail sorgfältig inszeniert und erinnert sofort an den Neorealismus, der die Geschichte des italienischen Kinos geprägt hat. Die realistischen Kulissen offenbaren eine akribische Aufmerksamkeit für jeden Gegenstand, wodurch die Zuschauer stark involviert werden. Auch die Musik spielt eine wichtige Rolle, und einige Stücke sind besonders interessant. Es ist deutlich zu erkennen, dass Cortellesi mit Formaten experimentiert und spielt, indem sie Musik nutzt, um die Emotionen der Figuren zu verstärken. Die Plakate und Werbung im Hintergrund, die mit der Musik synchronisierten Bewegungen der Figuren verleihen der Erzählung eine zusätzliche Dimension. Vor unseren Augen verwandeln sich die Emotionen der Figuren. Insbesondere die Liebes-Szene versetzt uns in einen Strudel der Emotionen, und eine einfache Geste wie das Teilen einer Schokolade ruft eine Vielzahl von Gefühlen hervor und erinnert an die Süsse und Intensität der ersten Liebe.
Fazit: Die rätselhafte Präsenz eines geheimnisvollen Briefes, der sorgfältig aufbewahrt wird, verleiht der Geschichte spürbare Spannung und bietet ein fesselndes Ende für dieses filmische Werk, das von Paola Cortellesi meisterhaft, einfühlsam und treffend inszeniert wurde.
Von Djamila Zünd