Phyllis Nagys Drama basiert auf der wahren Geschichte der «Janes», einem Untergrundkollektiv von Frauen, die im Chicago der 1960er Jahre im Geheimen fast 12’000 Frauen und Mädchen mit sicheren Abtreibungen halfen. Unterstützt von einer beeindruckenden Besetzung, leistet dieser Film einen wertvollen Beitrag zur Debatte um das Recht auf Abtreibung, die nach mehr als einem halben Jahrhundert leider wieder aktuell geworden ist. Doris Senn hat den Film für arttv gesehen und ordnet ein …
Call Jane
Ein dringlicher Appell für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Eigentlich selbstverständlich und doch wieder in Gefahr.
Ein Überblick über die politische Lage und den Zugang zu einer sicheren Abtreibung in den USA
Am 1. Dezember 2021 fand im U.S.-amerikanischen Supreme Court eine Anhörung im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization statt, der das offensichtlich verfassungswidrige Gesetz in Mississippi verhandelt, dass die Abtreibung bis zur 15. Woche untersagt. Dieser Fall ist eine unmittelbare Gefahr für Roe v. Wade, die richtungsweisende Supreme-Court-Entscheidung aus dem Jahr 1973, die das grundgesetzliche Recht auf Abtreibung bestätigte.
In den beinahe 50 Jahren seit Roe greifen Anti-Abtreibungs-Politiker zunehmend den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen an. Mit dem Fall aus Mississippi verlangten sie unverblümt, dass der Supreme Court den etablierten rechtlichen Präzedenzfall ignorieren und Roe aufheben sollte. Indem der Supreme Court dem Fall zugestimmt hat, signalisierte er seine potenzielle Bereitschaft, Jahrzehnte eigener Entscheidungen in Hinblick auf Abtreibungsrechte umzustossen. In einer parallelen Entwicklung erlaubte der Supreme Court das Inkrafttreten eines texanischen Gesetzes, das das Abtreibungsverbot nach sechs Wochen verbietet und damit eine Verletzung von Roe darstellt.
Das Urteil der Richter:innen über das Gesetz in Mississippi veränderte den Zugang zu Abtreibungen in den USA dramatisch und kippte auch die Grundsatzentscheidung von Roe v. Wade, die ein grundgesetzliches Recht auf Abtreibung einführte. Am 24. Juni 2022 wurde das bundesweit eingeführte Recht auf Schwangerschaftsabbruch gekippt und ist somit Sache der Bundesstaaten.
Auf Ebene der Bundesstaaten. Noch vor dem Urteil des Supreme Courts hatten es republikanisch regierte Staaten eilig, neue Beschränkungen für Schwangerschaftsabbrüche einzuführen.
Das Bild der Schwangerschaftsabbrüche hat sich zusammen mit der Gesellschaft gewandelt. Heute treiben Jugendliche weit seltener ab. Die typische Patientin ist bereits Mutter, arm, unverheiratet, Ende 20, hat studiert und ist seit kurzem schwanger. Mit der Aufhebung von Roe v. Wade bleibt Abtreibung in mehr als der Hälfte aller Staaten legal, nicht jedoch in einem breiten Gebiet im mittleren Westen und im Süden. Einige Frauen können in einen anderen Staat reisen oder mittels einer Abtreibungspille die Schwangerschaft beenden, viele Frauen in niedrigeren Einkommensschichten haben jedoch keinen Zugang dazu.
Rezension
Von Doris Senn
Das Recht auf Abtreibung ist – so unglaublich, so wahr – grad wieder brandaktuell. Nicht nur in Polen, wo jüngst die Frauen vergeblich gegen Einschränkungen des Gesetzes durch das Verfassungsgericht 2020 ankämpften. Oder in Brasilien, wo Bolsonaro im selben Jahr das Abtreibungsrecht ebenfalls beschnitt. Erst recht in den USA, wo der Supreme Court diesen Sommer das Rad der Geschichte zurückdrehte und das Recht auf Abtreibung wieder abschaffte, nachdem er es 1973, nach einem legendären Prozess («Roe v. Wade») und viel Protest auf der Strasse, endlich eingeführt hatte.
Feministische Forderungen: Anhaltend brisant
Feministische Errungenschaften haben eine kurze Halbwertszeit, wie nun gleich mehrere Filme zeigen, die das Thema Abtreibung historisch aufrollen und ungeahnt Brisanz erhalten. Im vergangenen Jahr war es «L’événement» von Audrey Diwan, die ein Buch der soeben zur Literaturnobelpreisträgerin gekürten Annie Ernaux verfilmte und für ihren Film über eine verbotene Abtreibung in den Sechzigern den Goldenen Löwen in Venedig erhielt. In Locarno war in diesem Jahr «Annie Colère» zu sehen von Blandine Lenoir über den Abtreibungskampf der Frauen Anfang Siebziger in Frankreich – mit Shootingstar Laure Calamy («À plein temps») in der Hauptrolle. Und nun bringt Phyllis Nagy ihren «Call Jane» ins Kino – über eine engagierte Frauengruppe, die «Janes», die zwischen 1968 und 1973 in Chicago nicht weniger als 12’000 (illegale) Abtreibungen möglich machten.
Sisterhood in den Sechzigern
Phyllis Nagy, die renommierte 59-jährige Drehbuchautorin («Carol»), realisierte mit «Call Jane» ihre erst zweite Regiearbeit. Für den Cast konnte sie Hollywood-Grössen wie Sigourney Weaver – als hemdsärmlig-radikale Feministin Virginia – oder Elizabeth Banks («Hunger Games») als Vorstadt-Familienfrau Joy gewinnen, die im Lauf des Films mehr und mehr von der feministischen Solidarität der «Sisterhood» überzeugt wird und zur feurigen «Janes»-Aktivistin mutiert.
Historisch verbürgt
Die Erzählung von «Call Jane» ist gradlinig, das Styling stilecht und unnostalgisch, die Figuren und Situationen historisch verbürgt, die kämpferische Energie der Feministinnen, insbesondere von Virginia, mit Händen zu greifen. Dafür, mag man monieren, ist die Story etwas glatt, das Atmosphärische etwas dünn geraten: Die Not der Betroffenen wird nur ansatzweise nachvollziehbar, ebenso ihre Beklemmung auf dem Operationsstuhl (selbst jene von Hauptfigur Joy) in dem behelfsmässig eingerichteten Zimmer mit einem null empathischen Arzt. Im Vergleich dazu ungleich intensiver: «L’événement». Oder Cristian Mungius unvergesslicher «4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage» (2007), in dem der rumänische Filmemacher auf bedrückende Art und Weise eine verbotene Abtreibung unter dem repressiven kommunistischen Regime der Achtziger nachzeichnete.
Fazit: Paradox: Das Abtreibungsdrama von Phyllis Nagy kommt just in dem Jahr ins Kino, in dem der Supreme Court das Recht auf Abtreibung in den USA – nach 50 Jahren! – wieder abschafft. In einer soliden Verfilmung erzählt «Call Jane» ein wichtiges Kapitel der Frauenbewegung mit unaufgesetztem Styling und viel Retro-Sound.
Call Jane | Synopsis
Chicago, 1968. Während die Stadt und die Nation am Rande eines gewalttätigen politischen Umsturzes stehen, führt die Hausfrau Joy mit ihrem Mann und ihrer Tochter ein gewöhnliches Leben in der Vorstadt. Doch Joys erneute Schwangerschaft führt sie unerwartet in einen lebensbedrohlichen Zustand. Sie muss sich mit einem medizinischen System und Ärzten auseinandersetzen, die nicht bereit sind, ihr zu helfen. Eine legale Abtreibung ist nicht möglich. Ihre Suche nach einer Lösung führt sie zu den «Janes», einer geheimen Frauen-Organisation, die Joy eine sicherere Alternative anbieten – und damit nicht nur ihr Leben retten, sondern auch grundsätzlich verändern. «Call Jane» wirft dringende Fragen über systemische Barrieren, die sich ständig verändernde Natur der Politik und den Kampf der Frauen um die Kontrolle über ihren Körper auf.
Call Jane | Stimmen
«Call Jane» ist bestes Feel-Good-Movie. Genau das könnte man den Film vorwerfen, dass er die Sache mit dem Kampf der Frauen um
Selbstbestimmung, um das Recht auf Abtreibung, viel zu wenig differenziert und tiefgründig angeht. Aber darum geht es nicht. Der Film will vielmehr aufzuzeigen, was eine mutige Frau bewegen kann. Ein wichtiges Statement, gerade jetzt wo konservative Kräfte in den USA und einigen anderen Ländern, die Abtreibungen wieder verbieten und unter Strafe stellen wollen. «Call Jane» , den ich an der Berlinale im Rahmen des Internationalen Wettbewerbs gesehen habe, ist mir in bester Erinnerung geblieben. Ein amüsanter, spannender und rührender Film. All jenen empfohlen, die sich nicht daran stören, dass auch schwierige Geschichten, leichtfüssig erzählt werden dürfen.» Felix Schenker, arttv.ch | «Formal solide inszeniert, exzelliert … das Drama insbesondere dann, wenn es uns mit dem Zeitgeist des Chicagos der späten 1960er und den Hürden einer Abtreibung während dieser Zeit familiarisiert und der überzeugenden Elizabeth Banks Sigourney Weaver zu Seite stellt, die jede Szene bereichert.» – Patrick Fey, moviebreak.de
Call Jane | Die Regisseurin
Phyllis Nagy wurde bereits für den Oscar und den British Academy Film Award (BAFTA) nominiert und gewann den NY Film Critics Circle Award für ihre Adaptierung von Patricia Highsmiths Liebesroman «Salz und sein Preis». Ihr Drehbuch wurde mit dem Titel «Carol» unter der Regie von Todd Haynes und Mitwirkung von Cate Blanchett und Rooney Mara verfilmt. Nagy wurde für ihren von HBO produzierten Film «Mrs. Harris – Mord in besten Kreisen» mit Annette Bening und Ben Kingsley für den Emmy Award in den Kategorien «Herausragende Regie» und «Herausragendes Drehbuch» nominiert. Der Film erhielt insgesamt zwölf Emmy-Nominierungen sowie mehrere Nominierungen der Screen Actors Guild Awards (SAG) und der Golden Globes.