Am Anfang und am Ende steht das Meer: Vater und Tochter verbringen gemeinsam Ferientage an einem Ort ohne Overtourism. BILDER IM KOPF, der Debütfilm der Luzerner Filmemacherin Eleonora Camuzzi, zeigt keine heitere Urlaubsgeschichte, sondern eine eindringliche Forschungsreise in die psychische Welt ihres an Schizophrenie erkrankten Vaters. An den Solothurner Filmtagen gewann der Film den «Visioni»-Preis.
BILDER IM KOPF
BILDER IM KOPF | SYNOPSIS
Tochter und Vater begegnen sich in einem weissen Raum. Ein unschuldiges Gespräch über einen Deal mit der Queen offenbart: In der scheinbaren Leere steht neben einer stigmatisierten Diagnose ein jahrzehntelanges Schweigen. Was als Befragung über die Vergangenheit beginnt, entwickelt sich zu einem aufrichtigen Dialog im Jetzt. Der Film hinterfragt die Grenzen von krank und gesund, richtig und falsch, fremd und vertraut und versucht eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.
Gewinnerfilm «Visioni»
BILDER IM KOPF ist der erste Gewinnerfilm des an den Solothurner Filmtagen neu geschaffenen Wettbewerbsformats «Visioni». Mit dem Preis sollen Anreize für Produzent:innen geschaffen werden, die Karriere einer Regieperson auch nach einem erfolgreichen Erstwerk weiter zu verfolgen. Der Preis ist mit 20 000 Franken dotiert, Stifter sind die beiden Kulturfonds der Urheberrechtsgesellschaften Suissimage und SSA. Die Jury 2025 setzte sich zusammen aus Neuza Bagorro, Co-Direktorin des Filmverleihs Diaphana Distributions, dem Filmemacher Clemens Klopfenstein (E NACHTLANG FÜÜRLAND, DAS SCHWEIGEN DER MÄNNER) und der Kamerafrau Meret Madörin, die bei zahlreichen internationalen und nationalen Filmproduktionen als Director of Photography gewirkt hat. «Was BILDER IM KOPF so besonders macht, ist seine visuelle Sprache. Trotz der stark formalen, minimalistischen und an eine Theaterbühne erinnernden Ästhetik gelingt es dem Film, eine beeindruckende Nähe zu den Figuren zu schaffen. Die beiden berühren uns tief und ihre Beziehung – voller Konflikte, aber auch voller Zärtlichkeit – wird mit einer Ehrlichkeit und Klarheit erzählt, die unter die Haut geht», so begründete die Jury den Sieg von Eleonora Camizzi.
BILDER IM KOPF | STIMMEN
«Dass hier eine Tochter und ein Vater um ihr gegenseitiges Verhältnis ringen, in einem abgesprochenen, kollaborativen und vor allem perfekt inszenierten, auf Öffentlichkeit zielenden Rahmen, das allein ist schon berührend. Dazu kommt die Musik, Lieder, die gezielt eingreifen, untermalen, illustrieren. Vater und Tochter sind voll guten Willens, aber das hilft nicht immer. Ihr Ärger misst sich mit seinem, Kartenspiele wechseln sich ab mit Interpretationsvarianten, der schlitzohrige Humor des Vaters trifft auf die unterdrückte Wut der Tochter und zugleich ist das ein hinreissender, schwebender Tanz um eine gemeinsame Wahrheit. BILDER IM KOPF IST eine Generationengeschichte, ein Stück Schweizer Vergangenheit und Gegenwart um Immigranten, Fremdenfeindlichkeit, Familie. Mit so viel Leichtigkeit so viel Schmerz zu attackieren, das macht diesen Film zum Erlebnis und zu einer guten Erinnerung.» – Michael Sennhauser, sennhausersfilmblog.ch
BILDER IM KOPF | REZENSION
Von Geri Krebs
BILDER IM KOPF ist allenfalls «experimental», insofern es eine formal streng komponierte Forschungsreise in die Abgründe einer menschlichen Seele darstellt, erzählt anhand von Vincenzo Camuzzi, Eleonoras Vater, der vor dreissig Jahren die Diagnose Schizophrenie erhielt und seither mit diesem Stigma lebt. Mit zunehmender Filmdauer wird der Film zugleich auch zur Reise in die eigenen Ängste der Tochter und Regisseurin, die gelegentlich Angst vor ihrem Vater hatte – aber auch davor, dereinst so zu werden wie er, wie ein innerer Monolog im Film zeigt. In einem karg eingerichteten weissen Raum mit Blick aufs Meer versucht Eleonora Camuzzi, ganz in Weiss gekleidet wie ihr Vater, zu ergründen, wie und warum er zu dem Menschen geworden ist, als der er sich hier präsentiert: Ein sympathisch wirkender, kleiner, etwas dicklicher Mann mit Hornbrille und langen, grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, der sich bereitwillig der Neugier seiner Tochter stellt und dem man anmerkt, dass er in seinem Leben schon oft mit der Psychoindustrie zu tun gehabt hat. Man vernimmt von ihm Sätze wie: «Ja, vielleicht verstecke ich mich ja ein Stück weit hinter der Diagnose, die man mir verpasst hat. Aber ich will keine Hilfe. Ich muss es selber regeln. Das ist es, was ich mit vier Jahren gelernt habe.»
Traumatisierende Kindheit
Er bezieht sich damit auf den Umstand, dass er als Vierjähriger in die Schweiz gekommen und ein sogenanntes «Schrankkind» gewesen war. Sein Vater, ein Sizilianer, hatte als Saisonnier – wie Zehntausende andere Migranten – kein Recht auf Familiennachzug. Er hatte den Sohn und die Mutter heimlich in die Schweiz geholt, doch der kleine Vincenzo weigerte sich, eingesperrt in der Wohnung, ruhig zu bleiben – und wurde deshalb bald wieder zurück nach Sizilien zu Verwandten geschickt. Als er einige Jahre danach erneut in die Schweiz kam, herrschte hier die hasserfüllte Stimmung des Jahres 1970. Es war die Zeit der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative, sein grosses Trauma, wie Vincenzo Camuzzi es nennt. Als Teenager habe er dann 1977 an der grossen Demonstration gegen das AKW Gösgen teilgenommen und dort hautnah Polizeibrutalität und die verständnislose Reaktion seines Vaters zu Hause vor dem Fernseher erlebt. All das zusammen habe bei ihm eine extreme Ablehnung gegenüber Staat und Autoritäten bewirkt und sei möglicherweise mitverantwortlich für seine spätere psychische Erkrankung gewesen, erklärt er.

Ein Raum voller Illusionen
BILDER IM KOPF ist allerdings ein viel zu intelligenter und komplexer Film, als dass er es angesichts derartiger Beschreibungen bei solch linearen Erklärungsmustern belassen würde. Denn immer wieder bricht Unheimliches aus Vincenzo heraus. Etwa, wenn er kurz ausführt, dass er damals, als sich Eleonoras Mutter von ihm abzuwenden begann, «als sizilianischer Macho» wohl die ganze Familie «begraben» hätte, falls sie, die Mutter, mit den Kindern weggegangen wäre. Sie wolle ihn Sachen fragen, die sie sich bisher nie getraut habe zu fragen, sagt Eleonora Camuzzi am Anfang – und es gehört zu ihren grossen Stärken und denen ihres Films, dass sie es schafft, auch immer wieder ihre eigene Hilflosigkeit dem Vater gegenüber durchscheinen zu lassen. Etwa wenn sie sich in einem weiteren inneren Monolog bezüglich der so erschreckenden Aussage des Vaters eingesteht, es mache sie wütend und traurig, dass sie auf so etwas nicht reagieren könne. Auch dass sich Schizophrenie durch die eigene Realität charakterisiere, in der jemand mit dieser Diagnose lebe, macht der Film deutlich – und das nicht nur anhand von Erzählungen des Vaters. So etwa jener von einem halben Penny, den er angeblich einst als Geschenk von der englischen Königin erhalten habe – sondern auch in seiner ganzen Form. So erweist sich der weisse Raum mit dem Ausblick aufs Meer, der, abgesehen vom Filmende, Schauplatz des Geschehens ist, am Ende als Illusion.
Offenes Meer
Wenn die Kamera weit zurückfährt, wird der Raum als Theaterbühne identifizierbar, die an einem Strandabschnitt aufgestellt wurde. Doch auch das könnte eine Illusion sein, denn letztlich lässt uns BILDER IM KOPF im Unklaren darüber, ob nicht auch das Meer so künstlich sein könnte wie der weisse Raum. Die Titel der drei Songs, die eigens für den Film komponiert wurden und die, mit Meeresbildern unterlegt, als Atempausen für das dramatische Geschehen funktionieren, könnten diesen Schluss nahelegen: «Follow the Birds», «La tua realtà», «Shadow Play».
Fazit: BILDER IM KOPF ist eine so formal brillante wie inhaltlich mutige Annäherung an die Innenwelt zweier aussergewöhnlich einnehmender Personen in einem Film, der versucht, psychische Krankheit auf eine Art sicht- und erfahrbar zu machen, wie man es so noch nie gesehen hat.
