Giulia Tonelli, Solotänzerin am Opernhaus Zürich, kehrt aus dem Mutterschaftsurlaub zurück. Schritt für Schritt findet sie die Balance zwischen der wettbewerbsorientierten und anspruchsvollen Welt einer Elite-Ballettkompanie und ihrem neuen Familienleben.
Becoming Giulia
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Viele Kinder im Ballettunterricht träumen davon, einmal eine Primaballerina zu werden – oder zumindest in einer Compagnie tanzen zu können. Die allerwenigstens schaffen es. Dass es eine äusserst harte Schule ist, bis man es einigermassen zu etwas bringt, ist auch den nicht Ballett-Tanzenden bekannt. Und dass die Trainingsbedingungen von jungen Menschen im Spitzensport auch erniedrigend und unmenschlich sein können, bis hin zum Missbrauch, wurde in letzter Zeit mehrmals offenkundig. Aber es gibt sie eben doch, die erfolgreiche Karriere. Die 45-jährige Schweizerin Laura Kaehr führt uns im Dokumentarfilm «Becoming Giulia» in einfühlsamer Weise an die Solotänzerin Giulia Tonelli heran, einer Italienerin, die am Zürcher Opernhaus in zahlreichen Choreografien die Hauptrolle tanzt. Giulia hat einen Sohn geboren und kommt nach einem mehrmonatigen Unterbruch wieder ans Opernhaus zurück. Das Training ist unerbittlich, der Körper muss wieder zum Tanzen gebracht werden. Sie hat Schmerzen. Ihr Kind gebe ihr viel, sagt sie, mache sie stark, auch emotional, aber ihr habe in dieser Zeit die eigene Identität gefehlt: sie müsse tanzen.
Zwei Welten kommen zusammen
Man sieht Giulia zu Hause: Kinderkleider zusammenlegen, kochen, putzen, mit dem kleinen Buben spielen – eine Hausfrau. Eine Hausfrau? Auch. Aber viel mehr eine Solotänzerin, die alles unter einen Hut bringen will und auch bringt, mit Hilfe ihres anpackenden und unterstützenden Mannes und ihren Eltern aus Italien, die sie immer wieder entlasten. Aber da ist auch das Dilemma. Eines, das von aussen kommt, das ihr sagen will, man könne nicht beides, man müsse sich entscheiden. Sie hat sich entschieden und tut Ausserordentliches dafür: Familie und Beruf zusammenzubringen. Und es gibt diesen subtilen Druck von denen, die im Ballettbetrieb etwas zu sagen haben. Ihre Verfügbarkeit wird getestet, man will sichergehen, dass sie das alles hinkriegt. Denn Giulia Tonelli ist auch mal in drei verschiedenen Produktionen in der Hauptrolle zu sehen: zum Beispiel in «Romeo und Julia» oder in Verdis «Requiem». Und das ist doch ziemlich anstrengend und herausfordernd.
Nichts ist sicher
Dann kommt Covid und der angekündigte Wechsel des Ballettmeisters: Christian Spuck geht, Cathy Marston kommt. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Cathy Marston, zweifache Mutter, ist mit ihren Arbeiten als Geschichtenerzählerin bekannt. Die beiden machen erste Proben zusammen. Das gibt Giulia Zuversicht, sie beginnt langsam die Dinge anders zu sehen, liebäugelt selbst mit der choreografischen Arbeit. Denn nichts ist sicher, jeder und jede kann von einem Tag auf den andern den Job verlieren.
Fazit: Der Filmemacherin Laura Kaehr, selbst Balletttänzerin und Choreografin, ist mit «Becoming Giulia» ein berührender und aufschlussreicher Film gelungen, der nicht umsonst am Zürcher Film Festival den Publikumspreis gewonnen hat. Die Bescheidenheit und das Engagement der Tänzerin sind es, die einen beeindrucken und zugleich nachdenklich machen.
Beruf und Familie auf eine Linie bringen. Das ist der Kern dieser Geschichte, die für alle Frauen gilt, die arbeiten und zu Hause Kinder haben.Absolut sehenswert.