PARTIR UN JOUR, der Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Cannes, ist der erste Spielfilm von Amélie Bonnin. Inspiriert von ihrem gleichnamigen Kurzfilm, behandelt er auf sensible und humorvolle Weise die Themen Partnerschaft, Familie und berufliches Engagement aus der Sicht einer Küchenchefin. Am Tag nach der Weltpremiere in Cannes trafen wir eine gut gelaunte Amélie Bonnin, die uns in die Geheimnisse der Produktion ihres sehr erfolgreichen und genauso originellen Films einweihte.
Amélie Bonnin | PARTIR UN JOUR
- Publiziert am 23. Juni 2025
«Wir wollten erzählen, wie es ist, seine Jugendliebe wiederzusehen, obwohl das Leben längst andere Wege eingeschlagen hat.»
PARTIR UN JOUR | SYNOPSIS
Als Cécile sich darauf vorbereitet, ihr eigenes Gourmetrestaurant zu eröffnen und endlich ihren Traum zu verwirklichen, muss sie nach dem Herzinfarkt ihres Vaters in ihr Heimatdorf zurückkehren. Weit weg vom Pariser Leben trifft sie zufällig ihre Jugendliebe wieder, Erinnerungen werden wach und ihre Gewissheiten geraten ins Wanken …
Mit Amélie Bonnin sprach Ondine Perier
Ihr Film hat Cannes 2025 eröffnet. Haben jemals an das Festival gedacht oder davon geträumt, als Sie das Drehbuch geschrieben haben?
Keineswegs. Mit Dimitri Lucas, meinem Co-Drehbuchautor, hatten wir vor allem unsere Verwandten und ein Publikum im Sinn, das für die Geschichte empfänglich ist. Der Film ist sehr persönlich und intim, weit entfernt von den erwarteten Formaten eines grossen Festivals. Sich Cannes vorzustellen, hätte uns gelähmt.
Darf man Ihren Film als Musical bezeichnen?
Das würde ich nicht sagen. Die Lieder sind darin so eingebettet wie in unserem Leben: Sie begleiten Schlüsselmomente, Trennungen, Fahrten, Erinnerungen. Es sind emotionale Marker, keine Musiksequenzen im herkömmlichen Sinne.
War der Einsatz der Lieder von Anfang an geplant?
Ja, von der ersten Version des Drehbuchs an. Einige haben sogar das Schreiben beeinflusst. «Cécile, ma fille» inspirierte uns zum Vornamen der Heldin. Wir wollten Kulttitel, um das kollektive Gedächtnis zu wecken, die mit dem Alter der Figuren in Verbindung stehen. Diese Lieder erzählen von ihrer Vergangenheit.
Welcher Lied-Titel berührt Sie selber besonders?
Die Chansons von Claude Nougaro erinnern mich an die Autofahrten mit meinem Vater. Andere Lieder sind nicht mit bestimmten Erinnerungen verbunden, sondern gehören zu meiner Welt. «Partir un jour zum Beispiel ist in meiner Generation verankert, auch wenn ich selber 2Be3 nicht angehört habe.
Warum spielt die Erzählung weit weg von Paris?
Es gibt seit kurzem eine Öffnung im französischen Kino: Filmemacher:innen aus ganz Frankreich erzählen von anderen Realitäten als denen der bourgeoisen Pariser Wohnungen. Das ist sehr wertvoll. Ich habe festgestellt, dass meine Figuren immer männlich sind. Das wollte ich in diesem Spielfilm ändern.
Warum haben Sie Foodporn, also das glamouröse Zurschaustellen von Speisen, in einem Film vermieden, der sich auf ein Top-Restaurant konzentriert?
Weil es kein Film über die Gastronomie als ästhetisches Objekt ist, sondern über die Arbeit, die damit verbunden ist. Meine Eltern sparten, um einmal im Jahr in ein Sterne-Restaurant zu gehen – für sie war dieser jährliche Besuch heilig. Der Film zeigt die Härte des Berufs in gewöhnlichen Raststätten ebenso wie in den Gourmetküchen. Die Anforderungen sind unterschiedlich, aber man ist mit vollem Einsatz dabei. Aber allzu oft fordert das Ganze einen zu hohen Preis.
Sie zeigen eine weibliche Chefin, die autoritär, aber menschlich ist. Wollten Sie ein neues Rollenmodell etablieren?
Ja, ich wollte eine zeitgenössische Chefin zeigen, die hohe Ansprüche stellt, aber wohlwollend ist, in einem weniger toxischen Management. Eine starke, freie Figur, die keine Kinder will, nicht wegen eines Traumas, sondern weil es ihre Entscheidung ist. Ich war erstaunt, dass ich bei der Finanzierung aufgefordert wurde, diese Ablehnung zu begründen. Die Entscheidung als Frau keine Kinder haben zu wollen, scheint ein Tabu zu bleiben.
Die Ablehnung der Mutterschaft führt zu einem Dilemma zwischen Ihrer Protagonistin und deren Partner.
Genau! Sie liebt ihn, aber sie will keine Kompromisse eingehen. Sie weiss, dass ihre Entscheidung ihr und ihm schaden wird, trotzdem will sie sich treu bleiben. Es geht ihr nicht um eine Entscheidung Karriere gegen Kind. Es geht um das Bedürfnis, sie selbst zu sein.
Ein Gericht, das einen Koch oder ein Restaurant besonders auszeichnet und dessen kulinarische Identität widerspiegelt, nennt man Signature Dish. Sie setzen ein solches Signature Dish in Ihrem Film sehr symbolhaft ein. Warum?
Ich suchten nach einem Bild aus meiner Kindheit, nach einem Geschmack, einem Gefühl. Ein in Kaffee getauchtes Stück Zucker heisst bei uns «Ente». Ich verbinde damit eine starke Erinnerung: Mein Grossvater hat für mich eine «Ente» gemacht, mein Vater macht sie für meinen Sohn. Das ist eine Übertragung. Visuell ist es auch sehr filmreif, mit diesem Kaffee, der in den Zucker klettert. Das ist der klassische Proust-Effekt: Ein Geruch oder Geschmack kann plötzlich lebhafte, oft lange vergessene Erinnerungen und Emotionen aus der Vergangenheit hervorrufen.
Wie wichtig war Ihre Produzentin Sylvie Pialat im ganzen Realisationsprozess?
Sie war von entscheidender Bedeutung. Ich habe auch drei männliche Produzenten, die ich liebe, aber eine Frau als Produzentin zu haben, eine so starke Figur wie Sylvie, das ist enorm wertvoll.
Was sind Ihre künftigen Pläne?
Ich habe Ideen, aber nach einem solchen Abenteuer muss man erst einmal etwas zur Ruhe kommen.