Der melancholisch-turbulente Debütfilm von Michael Fetter Nathansky war die Überraschung der letzten Berlinale. Das im rheinischen Braunkohlerevier angesiedelte magische Sozialdrama, getragen von Aenne Schwarz und Carlo Ljubek, weist eine Verspieltheit auf, wie sie schon lange nicht mehr im deutschsprachigen Kino zu sehen war – und verliert sich leider in ihr.
ALLE DIE DU BIST
ALLE DIE DU BIST | Synopsis
Die unerschrockene Fabrikarbeiterin Nadine verliebt sich in ihren schrägen Kollegen Paul. Sie ist verzaubert von der Bandbreite seiner vielfältigen Wesenszüge. Im jahrelangen Alltag ihrer Beziehung hat sich dieser Zauber jedoch verflüchtigt. Nadine nimmt Paul nur noch als Paul wahr. Wird es ihr gelingen, dieses Gefühl der ersten Verliebtheit neu zu entdecken und ihren Liebsten wieder mit all seinen Facetten wahrzunehmen?
ALLE DIE DU BIST | Rezension
Von Rolf Breiner
Nadine (Aenne Schwarz) besänftigt einen Ochsen, kuschelt mit einem Knaben, lehnt sich an einen Mann, wendet sich ab, kehrt zurück. Paul (Carlo Ljubek) rastet an seinem neuen Arbeitsplatz aus, schottet sich ab und lässt sich nur durch Nadine beruhigen. All die Gestalten, die Nadine erlebt, sind ein und dieselbe Person: ALLE DIE DU BIST – alle sind Paul. Mit jeder Rückblende erklärt sich ihre Liebe, die alle Phasen einer Zweisamkeit durchläuft und sich entzweit. Nadine arbeitet als Fabrikarbeiterin im Braunkohlerevier bei Köln, verliebt sich in den impulsiven, heftigen Gefühlsschwankungen ausgesetzten Paul. Nach sieben gemeinsamen Jahren hat sich ihre Liebe abgenutzt, ist verloren gegangen. Man ist sich fremd geworden.
Versteckte Milieustudie
Michael Fetter Nathanskys ungewöhnlicher Liebesfilm stellt die Frage, wie und ob man das alte Feuer wiederfinden und neu entfachen kann. Der Regisseur ist mit der Kölner Region gut vertraut und entfaltet in seinem Spielfilm trickreich und verschlungen eine Geschichte, die auf den ersten Blick nicht einfach zu durchschauen ist. Paul wird als labile, multiple Persönlichkeit wahrgenommen, überfordert und haltlos – in den Augen Nadines. In ihm spiegeln sich ihre Zweifel, Unsicherheiten, Ängste und Sehnsüchte wieder. Gleichzeitig ist das Liebesdrama eine Milieustudie, angesiedelt in der Region Köln – Leverkusen. Da ist kein Platz für Romantik oder Rührseligkeit. Hier kämpft jeder ums Überleben, so auch die beiden Protagonist:innen.
Zu viel gewollt
Nathansky versucht verschiedene Aspekte zusammenzubringen: Einerseits das Gefühlsleben seiner Figuren, anderseits die soziale Realität der Region und will darin Parallelen finden. Um diese darzustellen, bindet er anfänglich schwer einsichtige Formen und Bilder ein. Das funktioniert nicht immer gut und ist nur teilweise nachzuvollziehen. Auch ihre gelebte und komplexe Zweisamkeit – mal spielerisch, mal provozierend ausgetragen – bleibt widersprüchlich und letztlich ungelöst. Das facettenreiche Gefühlspanoptikum wirkt sperrig, porös. Vielleicht ist das auch ein Grund, weswegen die Nähe verloren geht – trotz grossartiger schauspielerischer Leistung von Aenne Schwarz und Carlo Ljubek. Kunstvolles Kino mit sozialrealistischem Background, das jedoch nicht wirklich berührt.
Fazit: Michael Fetter Nathansky entwirft in seinem Debütfilm eine zerrissene Welt der Liebe, in der Nadine sich verliert und wiederfindet. Aus ihrer Sicht hat Paul viele Gesichter und Gestalten. Ein komplexer, intimer Film über Selbstfindung und Widersprüchlichkeiten.