Agathe Riedinger erster Spielfilm wurde dieses Jahr in die offizielle Auswahl von Cannes aufgenommen. Ihr erfolgreicher naturalistischer Film erinnert an die Werke ihres Idols Andrea Arnold. Das Interview enthüllt die Welt von DIAMANT BRUT und die engagierte Vision von Agathe Ridinger, die die Suche nach Identität und Liebe in einer von Äusserlichkeiten besessenen Gesellschaft treffend schildert.
Agathe Riedinger | DIAMANT BRUT
- Publiziert am 26. November 2024
Ein Gespräch über einen sehr erfolgreichen Erstling und eine Hauptfigur, die von den Sozialen Netzwerken und Reality-TV versklavt wird.
DIAMANT BRUT | SYNOPSIS
Die 19-jährige Liane, waghalsig und glühend, lebt mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester unter der staubigen Sonne von Fréjus. Besessen von Schönheit und dem Bedürfnis, jemand zu sein, sieht sie in einer Reality-Show die Möglichkeit, geliebt zu werden. Das Schicksal scheint es endlich gut mit ihr zu meinen, als sie an einem Casting für «Miracle Island» teilnimmt.
AGATHE RIEDINGER | BIOGRAFIE
Agathe Riedinger, geboren 1985, Absolventin der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris (ENSAD), ist Autorin, Regisseurin und Fotografin. Sie experimentiert mit verschiedenen Erzählweisen zwischen Exzess und Ironie, die manchmal bewusst vulgär oder surrealistisch sind, um eine bestimmte Weltsicht zu hinterfragen und über Themen zu sprechen, die ihr am Herzen liegen, wie Emanzipation und die Stellung der Frau. Sie drehte die Kurzfilme „J’attends Jupiter“ und anschliessend „Eve“, die beide auf zahlreichen Festivals ausgewählt wurden. „Diamant brut“ ist ihr erster Spielfilm, der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes 2024 gezeigt wurde.
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Interview d’Agathe Ridinger par Ondine Perier
Können Sie uns Ihren Film kurz vorstellen und den Titel erklären?
Der Film erzählt von der Sehnsucht nach Liebe anhand der 19-jährigen Liane, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Fréjus lebt. Besessen von Schönheit und Reality-TV sieht sie darin eine Tür zu Anerkennung und Liebe. Eines Tages nimmt sie an einem Casting für die Sendung „Miracle Island“ teil. Der Titel DIAMANT BRUT spiegelt Lianes Vielschichtigkeit wider: ein Rohstein mit vielen Facetten, der sowohl hervorsteht als auch wertvoll ist.
*Sie scheinen der Welt des Reality-TV sehr nahe zu stehen. Wie haben Sie sich informiert?
Ich habe schon immer Reality-TV gesehen und verfolge die Kandidat:innen eifrig in den sozialen Netzwerken. Ich bin mit dieser Welt aufgewachsen und habe dadurch ein intensives Verständnis für die Dynamiken, die dies Leute durchziehen. Ich habe mich auch mit Kandidat:innen ausgetauscht, obwohl dies schwierig war, da sich viele von verunglimpft fühlten. Durch ihr Misstrauen konnte ich erkennen, wie sich der Blick von aussen auf ihr Streben nach Liebe und Anerkennung auswirkt. Für das Drehbuch arbeitete ich sorgfältig an der Lexik und liess mich von Diskursen über Schönheit, Luxus und Religion inspirieren, um authentisch zu bleiben.
Der Film erforscht die Wirren zwischen Liebe und Verlangen. Können Sie das näher ausführen?
Liane verkörpert diesen Umstand. Sie glaubt, dass das Begehren, das sie weckt, gleichbedeutend mit Liebe ist. Diese Tyrannei des Aussehens und der Perfektion wird durch soziale Netzwerke verstärkt, wo Likes und Herzen den Wert einer Person definieren. Liane ist das Ergebnis dieser Wettbewerbsgesellschaft, in der Leistung über alles geht.
Die Figur der Liane ist komplex: entschlossen, aber auch verletzlich. Wie sind Sie an das Casting herangegangen?.
Eine Schauspielerin zu finden, die Liane verkörpern kann, war eine Herausforderung. Malou, die die Rolle schliesslich bekam, ähnelt der Figur, wie sie jetzt im Film zu sehen ist, körperlich nicht. Sie hat eine beeindruckende Verwandlungsarbeit geleistet und gleichzeitig eine emotionale Distanz gewahrt, um sich nicht in dieser intensiven Rolle zu verlieren. Wir arbeiteten an ihrem Aussehen bis hin zu den kleinsten Details wie ihren Augenbrauen und ihrem Gang, um die vielen Facetten von Liane zu enthüllen.
War die Nacktheit im Film, insbesondere die von Liane, ein Problem?
Lianes Brust ist in Wirklichkeit eine Prothese. Das hat Malou geholfen, eine Distanz zwischen sich und ihrer Figur aufzubauen, ein bisschen wie eine Rüstung. Dadurch konnte sie sich vor der Kamera mit grosser Leichtigkeit bewegen. Junge Schauspieler:innen haben heute ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Image, wahrscheinlich weil sie mit den sozialen Netzwerken und der Allgegenwart von Kameras aufgewachsen sind.
Welche Botschaften möchten Sie mit diesem Film vermitteln?
Ich möchte jungen Menschen, vor allem jungen Frauen, sagen: Seid sanft zu euch selbst. Der Film thematisiert die erlittene Gewalt der Protagonist:innen, die sozial, psychologisch oder durch das Streben nach Perfektion bedingt ist. Eine junge Zuschauerin vertraute mir an: «Endlich erzählt jemand, worunter wir leiden». Mein Ziel ist es, die Realität des Drucks, dem Frauen ausgesetzt sind, aufzuzeigen und zu mehr Wohlwollen aufzurufen. Ein junger Zuschauer sagte mir, er habe nicht verstanden, was es bedeute, eine Frau zu sein, bis er den Film gesehen habe. Das hat mich sehr berührt und spiegelt die Idee des Films gut wider: zu enthüllen, was es heute bedeutet, eine Frau insbesondere eine junge Frau zu sein. Ich hoffe, dass DIAMANT BRUT Männer wie Frauen, dazu ermutigen kann, diese Realität besser zu verstehen.
Was sind Ihre zukünftigen Pläne?
Im Moment gibt es noch nichts Konkretes. Ich habe ein paar Ideen, vielleicht eine Serie oder eine Co-Regie. Aber ich bin noch am Überlegen.
Ein letztes Wort an die Zuschauer:innen?
Ich bewundere die junge Generation und ihre Widerstandsfähigkeit. Durch Liane hoffe ich, ihnen meine Zuneigung und Bewunderung übermittelt zu haben. Ich möchte ihnen sagen: «Seid sanft zu euch selbst».