Musik wird zu Räumen und Räume zu Musik, dazu eine von Kafkas Figuren deren Realität sich aufzulösen beginnt. Das ist die Mischung des neuen Musiktheaters von Beat Gysin.
Beat Gysin | Marienglas
Eine klassisch komponierte Musik zu Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ wird in einem eigens gebauten Kunstraum aufgeführt. Eine halbdurchsichtige Decke senkt sich, bis sich um das Publikum ein eigener Raum bildet: „Marienglas“ ist ein experimentelles Musiktheater. Das Publikum liegt (teilweise) und trägt Kopfhörer. Im Kopfhörer verfolgt es hörspielartige Szenen aus dem Roman und ebenso einen grossen Teil der Musik.
Das Publikum hört in zwei Sphären! Es hört im Kopfhörer, aber gleichzeitig im Konzertraum. Eine Aufführung – zwei Musiken: Gleichzeitig zum Hörspiel im Kopfhörer findet live ein Konzert statt. Manchmal passen beide Musiken zusammen, dann ergibt sich eine stimmige Gesamtmusik. Die kafkaeske Sicht auf die Welt, dieses tragische Auseinanderklaffen von innerer und äußerer Wirklichkeit aber kann vor allem dann gezeigt werden, wenn die zwei Musiken in den beiden Sphären nicht zusammen passen.
„Marienglas“ knüpft an eine moderne Alltagserfahrung an: Viele Menschen laufen heute mit Kopfhörern herum und hören zur selben Zeit zweierlei – ihre „eigene“ Musik und die Geräu- sche des Alltags. Mit „Marienglas“ kann aber auch eine kompositorische Vision umgesetzt werden, die perfekte Realisierung von Musik im dreidimensionalen Raum. Denn im Kopfhö- rer und dem Kunstraum können Klänge in „unerhörter“ Weise räumlich kombiniert und zu vielschichtigen akustischen Raumgestalten gefügt werden. Das Kafka-Romanfragment eignet sich dabei ideal als dichterische Grundlage: Der Landvermesser K. verliert mehr und mehr seine Orientierung.
Die Romanfigur wird auf der Bühne durch zwei Protagonisten dargestellt, einen Sänger und einen Artisten. Das Publikum weiß nicht, welche Figur der wirkliche Sänger ist, denn das ausgeklügelte Aufnahme- und Wiedergabesystem verunmöglicht die Zuordnung der gehörten Stimme zum gesehenen Sänger.
Was ist real, was ist virtuell? Diese Frage beschäftigt das Publikum beim Hören der Musik und beim Betrachten der Szenen von „Marienglas“.