Die Bilder dienten ursprünglich der Lehre, der Diagnose oder auch einer Form von Eigenwerbung. Heute geben sie einen seltenen Einblick in die Alltagsrealitäten von Menschen in Psychiatrien. Das Ausstellungs- und Buchprojekt «Hinter Mauern – Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935» zeigt historische Fotografien aus zehn psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz. Ein Ausstellungsprojekt von der Kunsthistorikerin Prof. Dr. Katrin Luchsinger und dem Kunstmuseum Thurgau.
Kunstmuseum Thurgau | Hinter Mauern
Gestohlene Bilder
Schon Mitte des 19. Jahrhunderts eigneten sich Psychiater:innen das neue Bildmedium der Fotografie an, denn es versprach, naturgetreu abzubilden, was sich vor dem Objektiv befand. Daher haben sich in vielen Kliniken Bestände von Glasdiapositiven, Fotoabzügen und Fotoalben erhalten, die bisher noch nie untersucht wurden. Die Diapositive wurden bei Lichtbildvorträgen vor Kollegen oder dem Pflegepersonal eingesetzt, manche Bilder in der Fachliteratur veröffentlicht. Aber was sollte anhand der Porträts der Betroffenen erkennbar werden? Über die Vermutung, eine «Geisteskrankheit» zeige sich an äusseren Merkmalen, wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert viel diskutiert. Heute wird vielmehr die Aufnahmesituation erkenntlich und die Rolle, wie die Fotografie damals in der Diagnostik eingesetzt wurde. Es waren «gestohlene» Bilder, erschlichen ohne das Einverständnis der Fotografierten.
Seltene Abwechslungen
Andere Aufnahmen liessen die Kliniken von professionellen Studios aufnehmen. Sie sollten der Öffentlichkeit ein Vertrauen erweckendes Bild vom Leben in einer Anstalt vermitteln, das ja weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Auf diesen Bildern sind saubere, helle Innenräume, gepflegte Parkanlagen und arbeitende Patient:innen zu sehen. Eine dritte Gruppe zeigt die bescheidenen Abwechslungen wie Tanzanlässe, Jahrmärkte, Zirkus oder Theateraufführungen, die das monotone Leben in der Anstalt auflockerten. Mit Feuereifer organisierte beispielsweise Hermann Rorschach in Münsterlingen und Herisau solche Anlässe. Die Psychiaterin Marie von Ries-Imchanitzky, eine Assistenzärztin in der Waldau bei Bern, fotografiert selbstbewusst sich und ihre Abteilung und auch künstlerische Aktivitäten der Patienten wie den zeichnenden Adolf Wölfli.
Mechanismen des Ein und Ausschliessens
Die Bildkonvolute zeigen eine Verhandlung über die Grenzen der Normalität. Es ist wichtig, sie zu erhalten und zu zeigen, denn sie stellen einen Fundus an Wissen dar: über die Psychiatrie jener Zeit, darüber, wie sich die Wissenschaft des neuen visuellen Mediums bediente – und wie prekär dieses Wissen war und heute noch ist. Die Bestände visualisieren Mechanismen des Ein- und Ausschliessens. Die Ausstellung gibt Gelegenheit, sich mit diesen Mechanismen auseinanderzusetzen.
Text: Thurgauer Museum