Kunstwerke sind heute immer weniger Objekte einer reinen Anschauung, sondern sie werden vermehrt als ein Interaktionsinstrument zwischen Künstler*innen und dem Publikum verstanden. Sie sind Katalysatoren von offenen Prozessen, in denen es um die Überprüfung von Wahrnehmungsmöglichkeiten und Erfahrungen geht. Wie stark sich die Funktion von Kunstwerken verändert hat, wird durch die in der Ausstellung «Zu Tisch» erzeugten Nachbarschaften deutlich.
Kunstmuseum Thurgau | Zu Tisch. Eine Einladung
- Publiziert am 23. April 2021
Das Jahresmotto der Kartause Ittingen regt zu einer Auseinandersetzung mit allen Dingen an, die beim Zusammensitzen an einer Tafel von Bedeutung sind.
Der Prozess des Kochens und Essens
Die Arbeit «Mobile Kleinstküche» von Max Bottini besteht aus einem Aluminiumwägelchen, das ähnlich wie ein Bürotrolley leicht von Ort zu Ort verschoben werden kann. Das Innere der Kiste birgt ein ausgeklügeltes Arsenal an Küchenutensilien. Sie enthält alles, was der Künstler benötigt, um an irgendeinem Ort unterwegs ein Gastmahl für zwei Personen zuzubereiten und zu geniessen. Der Künstler benutzte diese mobile Kleinstküche von 2002 bis 2008 für sein Performanceprojekt «Tisch», das ihn nicht nur durch die ganze Schweiz, sondern sogar bis nach Kopenhagen führte. Die Koch- und Essaktionen dokumentierte der Künstler jeweils mit einem auf einem Stativ montierten Fotoapparat, der in regelmässigen Abständen das Geschehen festhielt. Zusätzlich führte er «Aktionsprotokolle», in denen er jeweils nach jedem Essen den Inhalt der geführten Gespräche stichwortartig festhielt. Mit der Aktion «Tisch» überführte Max Bottini den Prozess des Kochens und Essens in den öffentlichen Raum. Das intime Tête-à-Tête wurde zur Performance, zum Kleinsttheaterstück, in dem persönliche Geschmacksvorlieben plötzlich für alle sichtbar realisiert und verhandelt wurden.
Performanceinstrument als Skulptur
Die Kochperformances waren weit mehr als ein aktionistisches Unterhaltungsangebot für ein Kunstpublikum. Max Bottini beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit künstlerischen Mitteln intensiv mit allem, was das Essen anbelangt. Er thematisierte in zahllosen Aktionen und Ausstellungen die Produktion und die Zubereitung von Nahrungsmitteln, die gesellschaftliche Bedeutung des Tafelns, die Möglichkeiten der Gespräche bei Tisch oder die Kultivierung aller Sinne, die mit Kochen und Essen einhergehen. In seinen Augen bildet das Essen und alles, was damit verbunden ist, eine der zentralen Kulturleistungen des Menschen. Mit der Präsentation der mobilen Kleinstküche im Kunstmuseum Thurgau verwandelte sich das Performanceinstrument in eine Skulptur, die nur noch in Ausnahmefällen in ihrer ursprünglichen Funktion eingesetzt werden wird. Als Kunstwerk im Museumsraum verweist die Kleinstküche nicht nur auf die stattgefundenen Aktionen des Künstlers, sie wird auch zu einem Dokument des Wandels der Kunstauffassung im frühen 21. Jahrhundert.
In der Tradition visueller Forschungsarbeit
Neben der Kleinstküche von Max Bottini werden Werke von Martha Haffter (1873–1951), Helen Dahm (1878–1968), Carl Roesch (1884–1979), Diogo Graf (1896–1966), Charlotte Kluge-Fülscher (1929–1998) und Rolf Schönenberger (1924–2015) gezeigt. Alle Bilder zeigen «Tischszenen», Ansichten von Gegenständen auf einer Präsentationsfläche. Handelt es sich beim Gemälde von Martha Haffter noch um eine konventionelle Abbildung einer realen Situation, so nutzen Helen Dahm und Diogo Graf ein paar auf einem Tisch liegende oder stehende Gegenstände für eine fundamentale Befragung der Sehgewohnheiten. Ihre Stillleben brechen mit der Darstellungskonvention der Zentralperspektive und verwandeln das Zusammentreffen von Früchten oder Blumenvasen auf einer Tischplatte zu einem malerischen Ereignis, bei dem mit Farben und Formen eine sehr viel offenere Raumerfahrung erzeugt wird. Ein Objekt im Raum wird nicht mehr als statisches Abbild, sondern als dynamische Seherfahrung von Räumlichkeit inszeniert. Diogo Graf trieb diese visuelle Forschungsarbeit bis zur vollständigen Aufgabe der Gegenständlichkeit voran und gilt in der Schweiz als einer der Pioniere der Entwicklung der gegenstandslosen Malerei.
Formen der Gegenständlichkeit
Einen anderen Weg beschritten Carl Roesch oder Charlotte Klüge-Fülscher, die immer an der Gegenständlichkeit der Bilder festhielten. Sie nutzten die Darstellung von Früchten, einer Vase oder einer Lampe auf einem Tisch als Vorwand, um Formen und Farben zu einer spannungsvollen Komposition zusammenzustellen. Ob mit den Mitteln des Mosaiks oder der Malerei – sie suchten nach einem attraktiven und dennoch in sich ruhendem bildnerischen Ereignis. Nochmals einen anderen Weg wählte Rolf Schönenberger, den vor allem die Möglichkeiten des malerischen Ausdrucks interessierten. Für ihn wurde ein Blumenstrauss auf einem Tisch zum Ausgangspunkt für ein Fest der Farbe, in dem das Pinselspiel bis zum Flimmern, bis zur Auflösung jeder Sicherheit des Sehens vorangetrieben wurde.