Der Garten im Entrée mutet zunächst vertraut und einladend an. Auch ohne ein Publikum, werden sich die zarten Pflänzchen im Laufe der kommenden Wochen durch die Erddecke und immer weiter nach oben strecken. Auch die flankierenden grossformatigen Zeichnungen der Künstlerin Marlene McCarty scheinen auf den ersten Blick die Faszination und auch Schönheit von Mensch und Natur wiederzugeben. Doch eröffnet sich dahinter noch eine ganz andere Ebene und inhaltliche Tiefe der Künstlerin …
Kunsthaus Baselland | Online-Führung | Marlene McCarty
Auf den zweiten Blick steckt mehr als nur die Faszination für die Schönheit von Mensch und Natur dahinter …
Marlene McCarty (*1957, Lexington, KY; USA/CH) studierte von 1978 bis 1983 an der Allgemeinen Kunstgewerbeschule in Basel. Nach ihrem Umzug 1983 nach New York arbeitete sie u. a. als stellvertretende Leiterin der MoMA-Abteilung für Grafikdesign und später mit Tibor Kalman bei der bekannten Designfirma M&Co. 1998 gründete sie gemeinsam mit Donald Moffett das Bureau, ein transdisziplinäres Designstudio, aus dem Kunst, Filmtitel, politische und kommerzielle Arbeiten hervorgingen. Früh wurde sie Mitglied des AIDS-Aktivismuskollektivs Gran Fury, das mit Auftritten wie 1990 an der Biennale in Venedig international für Aufsehen sorgte. Seit den 1980er-Jahren arbeitet McCarty konsequent mit unterschiedlichen Medien, wobei das Medium der Zeichnung mit alltäglichen Mitteln wie Grafit oder Kugelschreiber zentral für ihr Werk ist.
Sie erhielt u. a. das Guggenheim-Stipendium, das Pollack-Krasner-Stipendium, hat die Ehrendoktorwürde des Massachusetts College of Art und ist Professorin an der NYU Steinhardt. Ihre Werke finden sich in wichtigen öffentlichen und privaten Sammlungen weltweit; wichtige Ausstellungen der letzten Jahren waren zu sehen im New Museum, MoCA, ICA London, Secession, Wien, Reina Sofía, Madrid, Kunsthalle St. Gallen, ZKM Karlsruhe, und Museum Ludwig, Köln, sowie der Royal Hibernian Academy, Dublin. Die Ausstellung im Kunsthaus Baselland ist McCartys bislang umfangreichste Präsentation in der Schweiz, für die das Kunsthaus Baselland erstmals mit den Merian Gärten, eine Institution der Christoph Merian Stiftung, zusammenarbeitet. Das zentrale Zusammenspiel von Mensch und Natur, das durch Wissen, Verständnis und Gestaltung zu einem kulturellen Gut werden kann, ist dabei auch das zentrale verbindende Moment der Kooperation mit den Merian Gärten.
Bildlegende: Marlene McCarty, Into the Weeds, 2020, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2020. Foto: Gina Folly
Schicht um Schicht
Seit Jahrzehnten schafft es die in New York lebende, eng mit Basel verbundene Künstlerin mit einfachen und zugleich so direkten Mitteln wie Grafitstift oder Kugelschreiber, brisanten gesellschaftlichen Themen auf den Zahn zu fühlen. Bei den seit den 1980er-Jahren konstant gewachsenen, gewaltigen Zeichnungsserien und -zyklen scheint der Blick der Künstlerin — und dabei auch derjenige der Betrachterinnen und Betrachter — durch sämtliche Themen der Gegenwart, aber auch gesellschaftliche Abgründe hindurchzugehen. Wie mit einem Skalpell wird minutiös Schicht um Schicht aufgedeckt, geht durch Textiles, Oberflächen, nackte Haut, über Vordergründiges zu Tiefsinnigem. Menschlich Bekanntes zeigt sich in einer weiteren Schicht als animalisch unberechenbar und gefährlich, während dem Animalischen selbst tief Menschliches zugesprochen wird.
Reüssieren oder scheitern
Die Ausstellung im Kunsthaus wird auch gerahmt durch eine Narration, die Marlene McCarty seit Mitte der 1990er Jahren in ihrem zeichnerischen Werk fortschreibt: die Geschichte eines in Amerika lebenden Teenagers, Marlene Olive, die, als tragischer Akt der Rebellion, ihre Mutter erschlug und Komplizin wurde bei der Tötung des von ihr geliebten Vaters im Affekt. Einer griechischen Tragödie nicht unähnlich beschreibt diese Kriminalgeschichte für McCarty exemplarisch den verzweifelten Versuch eines Befreiungsschlags; Ein Befreiungsschlag einer Generation von Frauen, die Macht beansprucht, sich emanzipiert, reüssiert — oder kläglich scheitert.
Garten der Emanzipation
McCartys Themen könnten heute kaum dringlicher sein und reichen von sozialer und sexueller Ungleichheit über die Rolle der Frau bis hin zu Genderdiskussion und Transbiologie. So ist es denn auch naheliegend, dass sich McCarty in ihrem Werk in den letzten Monaten noch eingehender mit der Natur beschäftigt hat. Vor diesem Hintergrund liess sie mithilfe des Teams der Merian Gärten ein grosses Pflanzenreich im Kunsthaus errichten, das einerseits die florale Motivik der aktuellen Zeichnungen aufgreift. Andererseits steht dieser Garten noch dezidierter für die Arbeit der Künstlerin, die in ihren Werken nicht bloss beschreibt, dokumentiert oder erzählt, sondern eine Unmittelbarkeit und eine Direktheit ermöglicht, wie sie die Zeichnung schafft, wie sie aber vor allem die Realität selbst erzeugt. Der Garten lädt nicht zum Verweilen ein, sondern bringt auf einzigartige Weise — fast einer Forschungsarbeit gleich — Pflanzen zusammen, die, wie es McCarty recherchiert hat, historisch für die Emanzipation und das (geheime) Wissen der Frau stehen; etwa wurden bestimmte Pflanzensamen gegen ungewollte Schwangerschaften oder gar — mit toxischer Wirkung — als finale Möglichkeit der Selbstverteidigung eingesetzt.
Über Macht und Wissenschaft
Doch Marlene McCarty ist keine Künstlerin, die ausschliesslich historisch zurück blickt. Sie schafft es einmal mehr, die aktuelle Diskussion um die Frage der Macht- und Wissensverteilung in der heutigen Gesellschaft und die Anwendung von jedweder Gewalt an Schwächeren explizit auf das Anziehen, Kultivieren, Wachsenlassen von Wissen über Natur und dessen Verbreitung zu verknüpfen. Marlene McCarty macht nicht allein das Ungeschönte und Fratzenhafte einer gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar, deren kultivierter Zustand global infrage zu stellen ist. Sondern sie zeigt vor allem auf, dass eine Wissensaneignung, ein Bemühen um Kultivierung durch eingehende Wahrnehmung und ein Verständnis unterschiedlicher Sachverhalte gegenüber dem eigenen Sein in der Welt — eingebettet in unterschiedlichste Prozesse — Sinn und Verortung geben können und sich daraus ein nachhaltiges Handeln generieren lässt.
Text: Kunsthauses Baselland, OT