Sparen war auch bei Ernst Ludwig Kirchner angesagt. 1919 schrieb er: «Auch ich muss etwas sparen jetzt, und das Material ist sehr kostspielig geworden. Aber die Leinwand hat Gott sei Dank zwei Seiten.»
Kirchner Museum Davos | Der doppelte Kirchner – Die zwei Seiten der Leinwand
- Publiziert am 23. Juli 2015
Doppelbilder
Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) zählt zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Expressionismus. Durch seine avantgardistische Lebenseinstellung und seinen befreiten Umgang mit Form und Farbe hat er die Malerei des frühen 20. Jahrhunderts revolutioniert. Im Werk des Künstlers, der zu Lebzeiten sein eigenes Schaffen in Form von selbstgeschriebenen Kunstkritiken und stilistischen Überarbeitungen redigierte, gibt es ein besonderes Phänomen: die Rückseitenbilder als eigene Werkkategorie. In Kooperation mit der Kunsthalle Mannheim und dem Ernst Ludwig Kirchner Archiv in Wichtrach/Bern widmet das Kirchner Museum Davos erstmalig den Rückseiten- oder Doppelbildern eine eigene Ausstellung.
Die zwei Seiten der Leinwand
Die Malerei begnügt sich in der Regel mit einer Bildseite. Das Phänomen beidseitig bemalter Leinwände ist aber keineswegs auf das Werk von Ernst Ludwig Kirchner beschränkt. Auch seine Künstlerkollegen Erich Heckel, Otto Mueller und Max Pechstein haben Rückseitenbilder angefertigt. Keiner jedoch in dem Ausmass wie Kirchner: Derzeit sind 138 im Kirchner-Archiv verzeichnet. Ihre Entstehungs- und Werkgeschichte ist ebenso unterschiedlich wie ihr Status und ihre Qualität. Bei einem Teil der Rückseiten handelt es sich um abgeschlossene Werke, die vom Künstler signiert wurden und deren Güte der Vorderseite in Nichts nachsteht. Es macht die Sache nicht einfacher, dass Kirchner Bilder aus seiner Dresdner und Berliner Zeit in Davos drehte, überarbeitete und seinem neuen Stil anpasste. Obwohl Kirchner so selbst einiges zur Unübersichtlichkeit seines Werkes beitrug, lässt sich doch deutlich unterscheiden zwischen den Vorder- und Rückseiten zu Lebzeiten Kirchners und den Wendemanövern, die nach seinem Ableben erfolgten.
Werke zum Umrunden
Anhand von 17 doppelseitigen Gemälden aus der Zeit von 1909 bis 1937 thematisiert die Schau das spannende Feld der Werk- und Künstlerforschung. Sie untersucht dabei auch die unterschiedlichen Perspektiven des Kunstbetriebs auf den «Doppelten Kirchner», um eine wissenschaftliche und kuratorische Auseinandersetzung mit den zwei Seiten der Leinwand in Gang zu setzen. Die Ausstellung präsentiert alle Gemälde doppelseitig. Damit werden die Kunstwerke, die Kirchner im Kontext des Ateliers immer als Tafelbilder für die Wand gemeint und gemalt hat, zu Objekten im Raum, die sich erst im Umrunden, in der Bewegung des Betrachters erschliessen. Durch diese Präsentationsform wird die Haupt- und Rückseiten-Problematik im Ausstellungsraum nicht bewertet, sondern stattdessen dem Publikum eine eigene Beobachtung und Einschätzung ermöglicht. Die so offengelegten Rahmenvarianten geben Hinweise darauf, was als Rückseite wann, von wem und warum auch immer definiert wurde. Darüber hinaus geben sie Auskunft über die Geschichte der Bilder, die sich in Beschriftungen und Aufklebern manifestiert.
Drehen nach Ausstellungshalbzeit
Eine besondere Herausforderung bilden die nicht-formatkonformen Doppelbilder, d.h. Gemälde, deren Vorderseitenformat nicht dem der Rückseite entspricht. Dadurch ist ein gleichzeitiges, nicht wertendes Ausstellen unmöglich. Deshalb wird ein Teil der Werke bei Ausstellungshalbzeit gedreht, wodurch eine neue und andere Ausstellung entsteht. Zur umfassenden Schau gehört ferner eine interaktive Inszenierung aller bekannten 138 Doppelbilder von Ernst Ludwig Kirchner.