Eva Wipf (1929–1978) gehört zu den aussergewöhnlichsten Phänomenen der Schweizer Kunstgeschichte: Die Brüche und Abgründe der Nachkriegszeit übersetzte die Tochter eines Missionarspaars in berührende Objektassemblagen. Der Weg dorthin führte sie durch eine existenzielle künstlerische Suche vom altmeisterlichen Tafelbild über visionäre Collagen bis hin zu ihren aus Fund- und Flohmarktobjekten zusammengesetzten Plastiken.
Eva Wipf - Eine Künstlerin mit seismografischem Gespür
Das Kunstmuseum Thurgau widmet der unterschätzen Malerin und Objektkünstlerin eine umfassende Einzelausstellung.
Phänomen Eva Wipf
Der Zweite Weltkrieg war gerade mal vier Jahre vorbei, als die 20-jährige Eva Wipf notierte: «Ich möchte immer Seismograf sein, in Nacht und Licht, auch wenn ich einmal zerbrechen müsste.» Doch seismografisch feine Linien reichten nicht aus – in berührende Objektassemblagen übersetzte die eigenwillige Künstlerin die Brüche und Abgründe ihrer Generation. Sie sind schonungslose Zeichen der Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen. Heute gehören sie zu den beeindruckendsten Phänomenen der Schweizerischen Kunstgeschichte.
Eine unterschätzte Künstlerin
Zu diesen aus Fund- und Flohmarkt-Objekten zusammengesetzten Plastiken führte eine existenzielle künstlerische Suche vom altmeisterlichen Tafelbild über berührende Fotografien bis hin zu visionären Collagen. Schon früh thematisierte sie den Holocaust auf schonungslose Weise. Gleichzeitig beleuchtete sie die Fortschrittseuphorie der 1960er-Jahre, wenn sie erste Computerplatinen verarbeitete und so fragte, was denn wahrer Fortschritt bedeutet. Darüber hinaus existieren zahlreiche Werke, in denen sich die Suche nach anderen Lebensformen und neuen Formen der Spiritualität kristallisiert: die Konstellationen machen bildnerische Anleihen bei Schreinen oder Altären, doch wirken sie als künstlerische Kompositionen befreit von jeder religiösen Festschreibung. Es sind vielmehr persönliche, universelle Zeichensysteme. «Meine Kunst wird Magie sein», notierte Eva Wipf 1978, kurz vor ihrem viel zu frühen Tod. Doch wie so viele ihrer Zeitgenossinnen fand Eva Wipf in der männlich dominierten Kunstwelt zeit ihres Lebens zu wenig Anerkennung für ihr Schaffen.
Eva Wipf entdecken
Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts wurden die Aufzeichnungen von Eva Wipf gesichtet und ihr Werk in die Zeit und den kunsthistorischen Kontext eingeordnet. Die umfassende Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau präsentiert neben vielen Werken von Eva Wipf auch Tagebuchaufzeichnungen, Bezüge zu internationalen Positionen sowie Werke von Weggefährtinnen aus der damaligen Künstlerszene, wie der Künstlerkolonie Südstrasse in Zürich. Zur Ausstellung gibt das Kunstmuseum Thurgau gemeinsam mit dem Eva Wipf Museum in Pfäffikon ZH eine reich bebilderte Publikation heraus. Das Herz dieser Monografie bilden die erstmals ausführlich publizierten Tagebuchtexte von Eva Wipf. Die Texte zeichnen ein zerrissenes Seelenleben nach, bieten aber auch ein Bild der Schweizer Gesellschaft der 1950er- bis 1970er-Jahre. Wipfs Leben in und mit der jungen Kunstszene der Nachkriegszeit, insbesondere in der Künstlerkolonie Südstrasse in Zürich, wird anhand ihrer Notizen greifbar. Der Band wird abgerundet durch ein ausführliches Personenglossar, das die wichtigen und prägenden Menschen aus dem Umfeld der Künstlerin porträtiert.
Publikation | Herausgegeben von Stefanie Hoch und Felix Pfister, mit Texten von Stefanie Hoch, Christian Michelsen und Felix Pfister, über 100 farbige Abbildungen, 208 Seiten, Grafik: Nadine Rinderer, Frauenfeld,
Verlag Scheidegger & Spiess.
(Textgrundlage: Kunstmuseum Thurgau)