Niki de Saint Phalle (1930–2002), eine der wichtigen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, ist weltweit bekannt geworden durch ihre «Nanas»: Sie zeugen von einer scheinbar unbekümmerten Fröhlichkeit, die das Bild der Künstlerin geprägt hat. Aber Niki de Saint Phalles Schaffen ist weit mehr.
Ihr Gesamtwerk ist überraschend facettenreich – exzentrisch, emotional, düster und brutal, humorvoll, hintergründig und immer wieder herausfordernd. Es ist die letzte Ausstellung von Christoph Becker.
Die Ausstellung über «Niki de Saint Phalle» bricht den Besucherrekord und wird verlängert
- Publiziert am 2. Juni 2022
Das Kunsthaus Zürich zeigt eine Retrospektive mit rund 100 Werken: frühe Assemblagen, Aktionskunst, die Nanas und grosse späte Plastiken.
Soziale und politische Themen und Rollenbilder
Das überaus breite Spektrum der Tätigkeit von Niki de Saint Phalle zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und grossformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, im Film und in der Architektur.
Sie beschäftigte sich intensiv mit sozialen und politischen Themen und hinterfragte Institutionen und Rollenbilder – Auseinandersetzungen, die ihre Relevanz heute wieder unter Beweis stellen. Niki de Saint Phalle hat mit ihren legendären «Schiessbildern», die in provokativen Aktionen bereits in den 1960er-Jahren entstanden, einen entscheidenden Beitrag zu der gerade heute hochaktuellen Kunstform der Performance geleistet. Verfolgt man ihren künstlerischen Werdegang, so erscheinen vor diesem Hintergrund viele ihrer Werke, vor allem die «Nanas» und die grossen Installationen im öffentlichen Raum, in einem anderen Licht. Die Auswahl der Werke für diese Ausstellung gibt Einblick in das komplexe und hochinteressante Schaffen dieser Ausnahmekünstlerin – und natürlich bietet sie auch ein buntes, vielseitiges Sehvergnügen, das Christoph Becker als seine letzte Ausstellung für das Kunsthaus kuratiert hat.
Kunst als Ventil und Autotherapie
Die Kunst war für Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, Tochter einer Amerikanerin und eines französischen Aristokraten, ein Ausweg. Sie war Therapie nach einer schwierigen Kindheit und wurde zum Antrieb und Ventil einer durch und durch kreativen Persönlichkeit, die nach der Übersiedlung von Frankreich in die Vereinigten Staaten «Niki» genannt und mit Harry Mathews verheiratet, 1956 erstmals öffentlich ihre Malereien präsentierte. Und dies in St. Gallen. Ihr Lebensmittelpunkt wechselte beständig zwischen Frankreich, den USA, Italien und der Schweiz.
In Paris war sie nach Schiessaktionen auf Reliefs, die mit Gips und Farbbeuteln überzogen waren, Teil der Gruppe der Nouveaux Réalistes, als einzige Frau. Künstler wie der spanische Baumeister Antoni Gaudí, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Jean Dubuffet, Yves Klein beeinflussten sie und natürlich Jean Tinguely, den sie seit 1956 kannte und mit dem sie viele Projekte realisierte.
Gemeinschaftsarbeiten im grossen Massstab
Die ganz grosse internationale Bekanntheit bekommt de Saint Phalle 1966 am Moderna Museet in Stockholm, als sie ihre erste begehbare Plastik zeigt. «Hon» ist sechs Tonnen schwer und ca. 25 Meter lang. Zwischen den Schenkeln der stilisierten liegenden Frau gelangten die mehr als 100’000 Besucherinnen in das Innere «der grössten Hure der Welt», wie die Künstlerin sie nannte. An der Expo 1967 in Montreal glänzen de Saint Phalles voluminöse «Nanas» neben Tinguelys Maschinen. Gemeinschaftsarbeiten bleiben auch in den nächsten Jahrzehnten eine von ihr bevorzugte Praxis. So wie das Grossprojekt «Tarotgarten», das ab 1978 in der Toskana entstanden ist. Unmöglich, Werke aus diesem Gesamtkunstwerk für eine Ausstellung herauszulösen. Aber das Kunsthaus veranschaulicht anhand von Modellen und Fotos die Grösse des Projekts und die Ambition seiner Schöpferin. Zur Finanzierung lässt de Saint Phalle unter anderem Möbel und dekorative Artefakte in grösseren Auflagen produzieren. Erst nach zwei Jahrzehnten ist der Tarotgarten realisiert.
Zwischen Alter und Neuer Welt unterwegs. Aber nirgends zu Hause
Zu Ausstellungen und zur Produktion ihrer Werke kommt Niki de Saint Phalle immer wieder in die Schweiz. Dank öffentlicher Aufträge sind ihre Werke inzwischen in urbanen Zentren präsent – insbesondere in Frankreich. Ab Mitte der 1990er-Jahre verlagert sie ihren Lebensmittelpunkt nach San Diego. Sie entwirft Grossinstallationen für den Kit Carson Park in Escondido zwischen Los Angeles und San Diego, die erst 2003, posthum, vollendet werden. Niki, die ihren Galeristen Alexander Iolas und ihren engen Mitarbeiter Ricardo Menon durch HIV-Erkrankungen verloren hatte, engagiert sich kenntnisreich und kreativ gegen die Ausbreitung von AIDS. Spät erst macht sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater öffentlich. Vor diesem Hintergrund wird auch der Öffentlichkeit bewusst, wie wichtig – aber keinesfalls befreiend – das Verhältnis zur Mutter gewesen ist. Niki liebte es, Briefe zu schreiben. Vieles von dem, was wir heute über ihre Beziehungen wissen, verdanken wir ihrem fast schriftstellerischen Drang.
Die Unsterbliche
Um die Jahrtausendwende schenkte sie einige hundert Werke an das Sprengel Museum in Hannover und das Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain in Nizza. Da ist sie bereits mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet, dem weltweit renommierten Kunstpreis des japanischen Kaiserhauses. Als Niki de Saint Phalle am 21. Mai 2002 stirbt – eine Grunderkrankung und die langjährige Verwendung giftiger Materialien wie Polyester und Glasfaser in der Kunstproduktion hatten zu einem tödlichen Lungenemphysem geführt – waren ihre «Nanas» zu einem Markenzeichen geworden.
Gross und bunt, dezent und subtil
Dass Niki de Saint Phalle auf ihrem Weg stets innovativ, mutig und unabhängig geblieben ist, zeigt diese Ausstellung. Im grössten stützenlosen Ausstellungssaal der Schweiz sind halboffene Räume, innen teils schwarz, teils weiss ausgekleidet, frei auf der Fläche verteilt. Dazwischen bewegt sich das Publikum um einen Platz herum, wie in einem Dorf. Grosse Fensterbänder schaffen einen Bezug der Kunst zum Aussenraum, so wie es die Künstlerin bei der Standortwahl für ihre Werke gerne sah. Auf zahlreichen Fotografien tritt Niki de Saint Phalle, die auch als Model gearbeitet hatte, dem Betrachter entgegen. Dem Publikum werden ungewohnte Perspektiven auf ihr Werk eröffnet, denn vieles von dem was Niki de Saint Phalle schuf, war weder vordergründig noch gross und bunt. Und so findet auch in der raffiniert szenografierten Ausstellung manche Entdeckung im Verborgenen statt.
Introvertiert und exhibitionistisch
De Saint Phalle gibt von sich selbst viel, geradezu Intimes preis. Das traumatische Erlebnis der sexuellen Gewalt des eigenen Vaters, die belastete und problematische Bindung an die Mutter und ihr eigenes Rollenbild als Frau sind in ihrem Schaffen präsent – und viele Werke sind direkte Auseinandersetzungen, ja Abrechnungen mit dem Erlebten und den Personen. Die äusserlich elegante Frau war zudem ein Solitär in einer noch von Männern dominierten Kunstwelt, in der sie einen unverrückbaren, wichtigen Platz einnahm: beim Nouveau Réalisme und der Konzeptkunst in Interaktion mit der Welt ebenso wie in einem sehr privaten Œuvre in unzähligen Briefen und Zeichnungen. Es oszilliert zwischen grosser, einladender Geste, wie in «Nana Mosaïque Noire» (1999), die mit schillernden Spiegelstücken und leuchtender Keramik verziert ist, und introvertierter Detailverliebtheit, wie in «L’accouchement rose» (1964), einem hauptsächlich aus Drahtgitter und Holz bestehenden Objekt, das eine Gebärende mit beinahe monsterhafte Zügen darstellt.
Was für eine Marke!
Aggressiv und emotional sind die Stichworte, die die Kunst von Niki de Saint Phalle heute am besten beschreiben. Die «Marke» der lebensfrohen Niki de Saint Phalle ist eine der augenfälligsten weit über die Kunstszene hinaus. Wir begegnen ihr in Bahnhöfen, Boutiquen und Papeterien. Als wichtige, international tätige Künstlerin im 20. Jahrhundert hat Niki de Saint Phalle den Weg zwischen Kunst und Kommerz wie keine Kunstschaffende vor ihr zu ihrem Vorteil beschritten. Ihr legendäres Parfüm wurde noch nicht wieder aufgelegt. Vielleicht ist es besser so, um den Blick auch auf die leisen Töne im künstlerischen Gesamtwerk gerichtet zu halten. Darüber und über vieles mehr lässt sich in der aktuellen Ausstellung im Kunsthaus staunen.
Eine Ausstellung in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt. | Text: Kunsthaus Zürich