Geschichten, Anekdoten oder aktuelle Ereignisse dienen jeweils als Ausgangspunkte für die neuen Arbeiten von Moritz Hossli (*1990). Seine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus, die er als mehrteilige Videoinstallation anlegt, kreist um den Aletschgletscher und dessen Wandel in der Zeit.
Aargauer Kunsthaus | Moritz Hossli
Der in Giswil (OW) geborene Künstler thematisiert in seiner Kunst den Umgang der Menschen mit Veränderungen der Natur.
Beten für den Gletscher
Für seine Ausstellung in der CARAVAN-Reihe für junge Kunst wurde Hossli von einem Ereignis inspiriert, das erstmals 2009 in den Schweizer Medien für Schlagzeilen sorgte, dessen Ursprünge aber über 300 Jahre zurückreichen. Die Rede ist von einem Gelübde, das die Bewohnerinnen und Bewohner der Walliser Gemeinden Fiesch und Fieschertal 1678 abgelegt haben und das vom Papst genehmigt wurde. Veranlassung dafür war der Aletschgletscher, mächtigster Eisstrom der Alpen, und für die Dorfbewohner durch seine Ausbreitung eine ständige Bedrohung. Das Gelübde erlaubte, gegen das weitere Wachstum des Gletschers zu beten. Ab 1862 wurde zusätzlich eine jährliche Prozession durchgeführt, um die Gefahr, die vom Gletscher ausging, zu bannen. Die heutigen Bewohner von Fiesch und Fieschertal sehen ihren Hausgletscher jedoch längst nicht mehr als Gefahr, sondern bedauern dessen starken Rückgang seit Ende des 19. Jahrhunderts. Der Aletschgletschter ist nicht nur ein Wahrzeichen, sondern auch eine Tourismusattraktion und für die Region eine wichtige Einnahmequelle. Folgerichtig billigte der Vatikan auf Anfrage von Herbert Walden, Präfekt des Bezirks Goms, 2010 die Umkehrung des Gelübdes und die jährliche Prozession, konnte fortan unter vertauschten Vorzeichen stattfinden.
Nicht nur Kuriosum
Diese Geschichte, die als Kuriosum der römisch-katholischen Kirche abgetan werden könnte, sagt viel über das Verhältnis der Menschen zur Natur und zu ihrer unmittelbaren Umgebung aus – vor allem darüber, wie sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit verändern kann. Hossli visualisiert diese Bedeutungsverschiebung in seiner filmischen Arbeit, indem er Protagonisten aus der Vergangenheit und der Gegenwart von ihrer Beziehung zum Gletscher sprechen lässt. Die konträr angelegten Sichtweisen – Angst und Bewunderung angesichts des weissen Riesen – wechseln sich vor unseren Augen ab. Hossli geht es dabei nicht um eine wahrheitsgetreue Darstellung der erwähnten Geschehnisse, sondern vielmehr um die allgemeine Frage, wie eine Gesellschaft versucht, einer Naturgewalt Herr zu werden: Mittels Religion und Glaube oder mit Wissenschaft und Technologie. Auf Letzteres weist Hossli mit seinen Drohnenaufnahmen über dem Aletsch- und Rhonegletscher hin, die sowohl die nackten als auch die von Stoffbahnen bedeckten Eismassen zeigen. Das weisse Vlies reflektiert die UV-Strahlen und verringert damit den Schmelzvorgang. Sowohl die Gebete wie der Sonnenschutz haben schlussendlich ein und dasselbe Ziel: dem Gletscherschwund Einhalt zu gebieten.
Hossli und Caspar Wolf
Mit seiner Arbeit fällt Hossli kein Urteil über die unterschiedlichen Vorgehensweisen, sondern wirft zusätzliche Fragen auf. Das entspricht seiner künstlerischen Haltung: Er forscht und sucht dabei immer auch das ästhetische und technische Optimum. So sind die Drohnenaufnahmen von einer eigentümlichen Schönheit, die Strukturen des Eises gleichen jenen der weissen Vliesbahnen. Zusätzlich hat der Künstler mit einer Wärmebildkamera gearbeitet und setzt damit ein wissenschaftliches Messinstrument als thematisches Stilmittel ein. Wärmebildkameras werden sehr vielseitig verwendet und visualisieren Prozesse, die nur schwer fassbar sind, wie beispielsweise die Veränderungen von Oberflächentemperaturen. Als Brückenschlag in die Vergangenheit ist ein Gemälde eines Gletschers von Caspar Wolf (1735 – 1783) in der Ausstellung zu sehen. Caspar Wolf war der erste Künstler, der sich in Begleitung von Wissenschaftlern ins Gebirge vorgewagt hat und dessen Bilder ein vollkommen neues Mass an Naturtreue aufweisen. Man könnte sich Hossli in einem der Bilder von Caspar Wolf vorstellen, jedoch nicht als Teil der obligaten Reisegruppe, sondern einige Meter hinter ihr stehend und sie bei ihren Aktivitäten genauestens beobachtend.