Das packende Drama feierte Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival, wo Regisseur Massoud Bakhshi in der Kategorie «World Cinema Dramatic» ausgezeichnet wurde. In Anspielung auf eine beliebte iranische Fernsehshow inszeniert der Regisseur das TV-Studio als Bühne für ein dramatisches Kammerspiel, das hinter dem persönlichen Schicksal seiner Hauptfiguren auch die gesellschaftliche Dimension der Geschichte offenlegt. Rolf Breiner rezensiert den lebensnahen iranischen Spielfilm für arttv.
Yalda
Ein iranischer Regisseur nimmt eine real existierende Live-Fernsehsendung über Leben und Tod eines Menschen als Vorlage für seinen Film.
Massoud Bakhshi (1972, Teheran) arbeitete von 1990 bis 1998 als Filmkritiker, Drehbuchautor und Produzent. Als Regisseur realisierte er zwölf Dokumentar- und Kurzfilme, für die er mehrere internationale Preise erhielt. Sein erster Spielfilm, «A Respectable Family», wurde 2012 für die Directors’ Fortnight in Cannes ausgewählt. «Yalda» ist sein zweiter Spiel lm. Der Film gewann den World Cinema Grand Jury Prize: Dramatic beim 36. Sundance Film Festival 2020 und lief in der Sektion Genera on 14+ bei den 70. Internationalen Filmfestspielen. Im ausserordentlich kreativen iranischen Kino nimmt Massoud Bakhshi einen besonderen Platz ein. Er nutzt sowohl bekannte Symbole der Propagandakunst als auch geschichtliche und traditionelle Referenzen, um so die moderne iranische Geschichte zu reflektieren und der Identitätsfindung seines Landes einen neuen Rahmen zu geben. Bakhshi‘s Arbeit knüpft ein Netz komplexer und oft poetischer Verbindungen zwischen den geschichtlichen, politischen und religiösen Dissonanzen, die das kulturelle Leben seines Heimatlandes strukturieren.
arttv Rezension
Die (Medien-) Wirklichkeit ist bisweilen abstruser, unglaublicher und abwegiger als mancher Autor ersinnen und zu Papier bringen kann. Und doch gab es im Iran tatsächlich während des heiligen Monats Ramadan ein Fernsehformat, in dem zu Tode verurteilte Menschen im TV bei den Familien der Opfer um Gnade bitten konnten, die Sendung «Mah-e Asal» wurde bis 2018 ausgestrahlt. Regisseur Massoud Bakhshi greift dieses öffentliche Tribunal über Leben und Tod mit allen Showelementen auf. Am Abend des Yalda-Festes zur Wintersonnenwende inszeniert er die Show «Joy of Forgiveness», will heissen: Ein Delinquent oder Delinquentin erhält die Chance, begnadigt zu werden. Maryam (Dadaf Asgari), 20 Jahre jung, ist zum Tode verurteilt worden, weil sie ihren 40 Jahre älteren ‹Ehemann auf Zeit› angeblich aus dem Fenster gestossen haben soll. Mona (Behnaz Jafari), Tochter des Opfers, könnte ihr verzeihen und die Todesstrafe verhindern, wenn Maryam sie publikumswirksam reuig um Verzeihung bittet. Bei diesem öffentlichen Akt der Begnadigung hat einerseits eine Angehörige quasi die Befugnis eines Richters, andererseits hat das Publikum die Möglichkeit, per SMS seine Sympathie für die Verurteilte zu bekunden. Bei genügend Stimmen wird ein Sponsor das Blutgeld übernehmen, das Mona für den getöteten Vater zusteht. ‹Ehe auf Zeit› ist ein altes islamisches Männerprivileg, beruhend auf Vielweiberei. Die Frauen können ‹entlohnt› werden, sind aber rechtlos.
Für westliche Gemüter klingt das alles unbegreiflich. Dazu muss man wissen, dass das iranische Recht auf dem Grundsatz Vergeltung und Vergebung beruht. Wenn Angehörige bereit sind zu verzeihen, in diesem Fall die Tochter Mona, wird das Urteil gemildert, heisst die Hinrichtung wird in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Das Blutgeld bedeutet traditionelle ‹Wiedergutmachung›. Im Fall Maryam kommt hinzu, das man ihr verheimlicht hat, dass ihr Kind (vom alten Mann) überlebt hat und erbberechtigt ist. Das weckt wiederum Monas Widerstand. Massoud Bakhshi aus Teheran hat in seinem zweiten Spielfilm das fragwürdige TV-Schauspiel über Leben und Tod inszeniert, das im Iran tatsächlich ein grosses Publikum fand. Er zeigt mit «Yalda» nicht nur die Perversität von Justiz als Show, sondern auch eine gespaltene Gesellschaft von Besitzenden und Abhängigen, von Männern und Frauen. Der erschütternde Film konnte nur dank internationaler Produktionsmittel aus Frankreich, Deutschland, Luxemburg und der Schweiz realisiert werden. Im Iran wurde ihm bisher die Aufführungserlaubnis verweigert.
Rolf Breiner, arttv
Zum Film
Im heutigen Iran. Maryam, 22, hat ihren Mann Nasser, 65, unter unklaren Umständen getötet. Sie wird zum Tode verurteilt. In einer populären Reality-Show erhält Maryam die Möglichkeit, um die Vergebung von Nasars Tochter Mona zu kämpfen und der Todesstrafe zu entgehen. Aber die Vergebung erweist sich als schwierig, zu schwer wiegen die Ereignisse, die hinter Maryam liegen.
(Synopsis)
Stimmen
«Die Virtuosität von ‹Yalda› besteht in der Strategie, das Dispositiv der Fernsehbühne so gut wie nie zu verlassen, was uns zwingt, fast ständig die Kameraperspektiven zu bewohnen, die vom Regieraum der Fernsehsendung aus gesteuert werden.» – Matthias Wittmann, Filmexplorer | «Bakhshi inszeniert diese Schuld-und-Sühne-Show als steten Wechsel zwischen An- und Entspannung. […] Ausschliesslich im Iran wäre eine Finanzierung dieses Films nicht möglich gewesen. ‹Yalda› kommt als iranisch-europäische Koproduktion mit Geld aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Luxemburg in die Kinos. Es bleibt zu hoffen, dass Bakshis Drama, über welche Kanäle auch immer, auch an seinem Handlungsort ein Publikum finden wird.» – Falk Straub, kino-zeit.de