Filmkritikerin Doris Senn verrät, welche Filme des vielfältigen Programms man sich sicher vormerken sollte. Sehenswert sind neben den vielen Westschweizer Produktionen, die in der «Nationalen Auswahl» eine gewohnt starke Position einnehmen, auch zahlreiche internationale Filmbeiträge, die sich thematisch am Puls der Zeit bewegen.
Visions du Réel 2023
Die 54. Visions du Réel warten einmal mehr mit einer Fülle an Filmen und einer vielversprechenden Auswahl auf.
Die Sektion Highlights (ohne Wettbewerb) bietet eine Auswahl von elf Schweizer Premieren, die das Programmteam als ein Muss betrachtet. Zwei dieser Filme befassen sich mit dem hochaktuellen Thema der Identität. Der filmische und kollektive Essay «Orlando, ma biographie politique» lehnt sich als erster Langfilm des Philosophen und Aktivisten Paul B. Preciado an das Werk von Virginia Woolf an und prophezeit eine fröhliche Punk-Revolution, die der Binarität ein Ende setzt. «Notre corps», ein Film von Claire Simon, Ehrengast des Festivals im Jahr 2018, ist eine Einladung zu einer sensiblen und sehr persönlichen Reise, einer politischen Ode an die weiblichen Körper. Gleichzeitig bietet Highlights eine Ausdrucksfläche für aktuelle Krisen. Etwa mit dem Film «My Worst Enemy» des französisch-iranischen Regisseurs Mehran Tamadon, der in einer beklemmenden Inszenierung die Gewalt des Regimes der Islamischen Republik in Iran frontal darstellt. Oder mit «When Spring came to Bucha», ein Gemeinschaftswerk der ukrainischen Künstlerin Mila Teshaieva und des deutschen Filmemachers Marcus Lenz, das die Augenzeugenberichte der Bewohner:innen der Stadt Butscha nach den grausamen Taten, die die Welt erschütterten, festhält.
Unter den teilnehmenden in der Sektion Grand Angle sind Premieren, die demnächst auf weiteren Festivals gezeigt werden, aber auch Filme, die bereits ein internationales Publikum erobern konnten. 2023 birgt diese Sektion drei Weltpremieren: die Erzählung der Aktivist:innen von Extinction Rebellion in «Planet B» von Pieter Van Eecke; «Behind the Lines» der syrischen Filmschaffenden Alisar Hasan und Alaa Amer, der sich mit der ersten weiblichen Comiczeichnerin der Stadt Idlib beschäftigt und Animation und Realaufnahmen miteinander verwebt; sowie der Eröffnungsfilm «Nightwatchers» von Juliette De Marcillac. Die Auswahl umfasst ausserdem die internationale Premiere von «The Mountains» des dänischen Regisseurs Christian Einshøj, der auf seiner Suche nach Erlösung eine epische Superhero-
Geschichte mit autobiografischen Elementen verbindet, während die Europapremiere der indischen Produktion «Against the Tide», die ihren Start kürzlich in Sundance hatte, das Thema Fischerei, ihre Techniken und ihre sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen Herausforderungen beleuchtet. Einige Filme werden als Schweizer Premiere gezeigt, darunter «The Echo» von Tatiana Huezo, der bei der letzten Berlinale geehrt wurde, und die spektakuläre französisch-schweizerische Produktion «Paradise» von Alexander Abaturov, die den heldenhaften Kampf eines Dorfes gegen den ‹Drachen›, wie die Brände in der sibirischen Taiga genannt werden, erzählt.
Eine Vorschau
Es ist April, und wieder wird das Städtchen am Genfersee zum pulsierenden Zentrum dokumentarischer Formen aus aller Welt. Ein Blick in das Programm ist vielversprechend. So etwa im Langfilmwettbewerb «Grasshopper Republic»: Menschen in Uganda locken mit improvisierten Lampen und Wellblechen die Heuschreckenschwärme an, um mit blossen Händen die fluoreszierend grünen Insekten einzufangen und als Delikatessen zu verkaufen. Der tunesische «Machtat» gibt Einblick in die Lebensrealität dreier Hochzeitsmusikantinnen, die sich um einiges ernüchternder präsentiert als das in ihren Liedern beschworene Glück für die Jungverheirateten. «In Ukraine» wiederum erzählt vom absurd-normalen Alltag, den die im Kriegsland Verbliebenen zwischen Trümmern zu leben versuchen. Und der schweizerisch-kanadische Experimentalfilmemacher Peter Mettler ist zurück mit «While the Green Grass Grow» – über die Appenzeller Landschaft, den Tod seiner Mutter und die Pandemie.
Westschweizer:innen prägen die «Nationale Auswahl»
Stark die Westschweiz in der «Nationalen Auswahl» – etwa die Künstlerin Emanuelle Antille, die nach «A Bright Light» (2018) mit «The Wonder Way» aufwartet: eine sehr persönliche Suche nach dem eigenen Ich, mit Aufnahmen spektakulärer Orte dieser Welt – vom Garten ihrer Grossmutter bis zur Mojave-Wüste Kaliforniens. Ihre Langfilmdebüts präsentieren Laura Gabay mit «Para no olvidar» – eine Homemovie-Collage über das schmerzliche Exil ihres Vaters – und Sophie Ballmer, die anhand einer Hausräumung im Vallée de Joux das Patriarchat samt Kapitalismus dekonstruiert: «La maison». Nicolas Humbert («Step Across the Border, 1990) und Simone Fürbringer präsentieren «Floating Islands»: ein Bildpoem über die grossen Fragen zum Sein in dieser Welt.
Diese Programmreihen erleichtern die Qual der Wahl
Die beiden Sektionen «Grand Angle» und «Highlights» zeigen Werke, die anderswo schon prämiert wurden oder die das Filmteam uns besonders ans Herz legt. Etwa die verspielte Neuinterpretation von Virginia Woolfs «Orlando» des spanischen Queer-Theoretikers Paul B. Preciado oder «Vera» – über das Trauma, Tochter des ikonischen Schauspielers Giuliano Gemma zu sein. «The Last Year of Darkness» erzählt von einer vom Abbruch bedrohten Party-Location im chinesischen Cheng-du, während «And the King Said: What a Fantastic Machine» die ebenso amüsante wie erschreckende Entwicklung der Fotografie Revue passieren lässt.
Hommage erweist das Festival dem Westschweizer Regisseur Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus», 2003). Special Guest ist die italienische Autorin Alice Rohrwacher, die ihre hybriden Werke über eine Realität voller Magie präsentiert («Le meraviglie», 2014), während die argentinische Filmschaffende Lucrecia Martel («La ciénaga», 2001), die nebst Dok- und Spielfilmen auch eine Show für Björk produzierte, Ehrengästin des Festivals ist.