Schaurig grausam verkörperte er in «Das Schweigen der Lämmer» Dr. Hannibal Lecter, nicht weniger ergreifend und überzeugend spielt der Oscar-Preisträger Anthony Hopkins nun in «The Father» einen der Demenz verfallenden alten Mann. Es heisst, es sei eine der herausragendsten schauspielerischen Leistungen des heute 83-jährigen.
The Father
Eine herzzerreissende Beziehungsgeschichte zwischen Vater und Tochter mit sechs Oscar-Nominationen.
Rezension
Es wird den Zuschauer*innen wenig Zeit gelassen, ins Universum des schwer dementen Anthony einzutreten. Der kurze Weg durch ein grossbürgerliches Quartier von London, den seine Tochter Anne zurücklegt, um die Wohnung ihres Vaters zu betreten, muss ausreichen. Währenddessen ertönt auf der Tonspur barocke Musik. Sie endet mit dem Ablegen der Kopfhörer von Anthony. «Dad, it’s me!» – und er ganz verwundert: «What are you doing here?» Jetzt ist man mit einem Schlag mittendrin in einer Welt voller Verwirrung. Anthonys Uhr kommt ins Spiel. Einmal mehr wurde sie ihm gestohlen, einmal mehr taucht sie kurz darauf wieder auf. Ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch das Labyrinth, in dem sich Anthony befindet, durchzieht: Die abhandengekommene Zeit.
Auf den ersten Blick ist alles klar: Anthony muss von einer neuen Pflegerin betreut werden. Die frühere hat er rausgeschmissen – mit harschen, verletzenden Worten. «Ich brauche keine Hilfe!». Anne weiss, dass dem nicht so ist. Sie kümmert sich darum.
Allmählich wird uns als Kinobesucher bewusst, dass wir keine Ahnung haben, wo wir wirklich sind: bei Anthony zu Hause, bei Anne in der Wohnung? Ist Anthony vielleicht doch der Mann von Anne? Ist sie überhaupt verheiratet oder geschieden, plant sie wirklich nach Paris auszuwandern? «Was willst Du dort, die sprechen ja nicht einmal Englisch». Wir sind im Kopf von Anthony gefangen – und das ist die ganz grosse Leistung von «The Father». Es gibt zwar die Aussenansicht eines verwirrten Menschen, der helle Momente hat, aber als Zuschauer*in kann man sich an nichts halten. Anne wird Laura, Laura wird Anne. Warum gibt es letztere zwei Mal und wer ist eigentlich Paul? Nur eine Figur wird durch die ganze Geschichte klar gesetzt: Anthonys zweite Tochter Lucy. Er vermisst sie schmerzlich. Schon so lange hat sie ihren Vater nicht mehr besucht. Lucy soll tot sein, aber daran kann er sich nicht erinnern. Anne wird hemmungslos gegen ihre Schwester ausgespielt: Lucy ist smart, schön und begabt. Anne hingegen «nicht sehr intelligent». Jetzt will sie ihrem Vater auch noch die Wohnung wegnehmen. Nur darum soll er in ein Heim abgeschoben werden. Für Anne ist das alles schmerzvoll. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Selbstaufgabe, Pflichtgefühl und Empathie. Die Situation belastet stark ihre Beziehung (welche Beziehung und mit wem?). Die grosse Verzweiflung – auf beiden Seiten – wird immer wieder spürbar. Wie passt das alles zusammen? Erst ganz am Ende des Films wird das Puzzle vervollständigt und alles bekommt seinen Sinn.
Der erfolgreiche Schriftsteller und Regisseur Florian Zeller hatte die Güte, uns den Ausgang aus dem Verwirrspiel zu weisen. Es ist wie eine Erlösung. Der 42-jährige Franzose hat zusammen mit Christopher Hampton das grosse Thema «Demenz» mit Überzeugung und Respekt verfilmt. Als Grundlage dient sein Stück «Le père», das bereits 2012 uraufgeführt wurde. Die beiden Oscar-preisgekrönten Protagonisten Anthony Hopkins und Olivia Colman ziehen mit einer Selbstverständlichkeit sämtliche Register ihres Könnens. Sie und der Regisseur machen den Film zu dem, was er ist: ein grossartiges, gescheites und beklemmendes Werk über eine Krankheit, die viele Angehörige an den Rand der Verzweiflung bringen kann.
Madeleine Hirsiger, arttv
Zum Film
Anthony (Anthony Hopkins) ist 81 Jahre alt. Er lebt allein in seiner Londoner Wohnung und verweigert sich allen Pflegenden, die seine Tochter Anne (Olivia Colman) ihm aufzudrängen versucht. Doch diese Notwendigkeit wird für sie immer dringlicher, da sie ihn nicht mehr jeden Tag sehen kann: Sie hat den Entschluss gefasst, nach Paris zu ziehen, um mit einem Mann zu leben, den sie kürzlich erst kennengelernt hat… Während Anthony versucht, sich mit der aufkommenden Demenz und den veränderten Lebensumständen zu arrangieren, beginnt er, an seinen Lieben, seinem eigenen Verstand und sogar an der Struktur seiner Realität zu zweifeln.
Stimmen
«Ein brutales, ‹trippiges› Porträt darüber, wie es sich anfühlen muss, die Kontrolle über die Realität zu verlieren» – Benjamin Lee, The Guardian | «Alle Schauspielenden in ‹The Father› sind eindringlich (Colman verleiht ihrer Rolle eine liebevolle Verletzlichkeit, die herzerwärmend ist), aber Hopkins ist schlichtweg umwerfend. Er spielt eine Zeit lang mit griesgrämigem Charme und aufbrausender Sicherheit. Aber die Eigenschaft, die seine schauspielerische Leistung zusammenhält und Oberhand gewinnt, ist eine Art kosmischer Verwirrung, die in Terror umschlägt. Anthony verliert mehr als sein Gedächtnis – er verliert sich selbst.» – Owen Gleiberman, Variety
Der 1979 in Paris geborene Romancier und Dramatiker Florian Zeller ist einer der begabtesten zeitgenössischen Autoren Frankreichs. Bereits 2004 wurde er mit dem «Prix Interallié», dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien sein erstes Theaterstück «Der Andere» in Paris und wurde zu einem Überraschungserfolg. Für sein drittes Stück «Wenn du tot wärst», das 2006 mit grossem Erfolg in der «Comédie des Champs-Elysées» lief, erhielt Zeller den «Prix jeune théâtre de l’Académie française». Die Uraufführung der Komödie «Die Wahrheit» fand im Pariser Théâtre Montparnasse statt. «Eine Stunde Ruhe» wurde unterdessen mit Christian Clavier in der Hauptrolle gelungen verfilmt. «Vater» wurde 2014 mit dem Prix Molière ausgezeichnet und feierte seinen Triumphzug an Bühnen in Europa (u.a. London West End) und am Broadway in New York. 2020 wurde das Stück mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt.
Der Film «The Father» basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Florian Zeller, welches von ihm selbst für die Leinwand adaptiert wurde. Der Regisseur und Drehbuchautor mit Schweizer Wurzeln durfte sich erst kürzlich über einen BAFTA-Award freuen, den er gemeinsam mit Christopher Hampton in der Kategorie «Bestes adaptiertes Drehbuch» entgegennahm.