Saudi Runaway | Ein Film ohne Publikum
- Publiziert am 25. Februar 2020
Ist «Saudi Runaway» ein unehrlicher Film? Welche ethische Verantwortung haben Regisseur*innen in Dokumentarfilmen?
Die Schweizer Regisseurin Susanne Regina Meures (Raving Iran) kreierte aus protokollartigen Videodokumenten einen Film, der zum Sprachrohr der jungen Saudierin Muna wird, die sich gegen ihre arrangierte Hochzeit wehrte und nach Deutschland flüchtete. Der Film entwickelte sich zum Festivalerfolg, wurde für den Europäischen sowie den Schweizer Filmpreis nominiert und National Geographic sicherte sich die Weltrechte. Ins Kino kommt der Film trotzdem nicht. Warum?
«Gerade dadurch, dass die Rolle der Regisseurin […] ausgespart wird, wirft ‹Saudi Runaway› einige grundsätzliche Fragen zur ethischen Verantwortung in Dokumentarfilmen auf: Wann wird eine Regieanweisung zu einem Eingriff in die Existenz eines anderen Menschen? An welchem Punkt wird die Filmregie zur Regie über das Leben, wo verläuft diese prekäre Grenze? Und wer zahlt allenfalls den Preis für die ‹nie dagewesenen Bilder›, mit denen geworben wird?» Florian Keller, WOZ
Ein unredlicher Film?
arttv.ch hatte den Film an der Berlinale gesehen und war wie viele andere begeistert. Die junge Protagonistin Muna, die sich gegen ihre Zwangsheirat wehrt und nach Deutschland flüchtet, wühlte auf und berührte ungemein. Der Mut der jungen Frau stiess auf breite Bewunderung. Es schien, dass nichts und niemand sie in ihren Plänen stoppen konnte. An der Berlinale stand sie noch voller Stolz auf der Bühne und feierte ihre Person und den Film. Doch bald kamen Zweifel. Immer mehr fühlte sie, als hätte sie ihre eigene Familie verraten. Nicht zuletzt auch, weil sie diese heimlich mit dem Handy gefilmt hatte, ohne dass ihre Familienangehörigen das wussten. Ein Rückzieher folgte. Inzwischen hat Muna alle Filmvorführungen verboten und besteht auf absoluter Anonymität. Die Macher von «Saudi Runaway» können dagegen nichts machen, es gilt das Recht am eigenen Bild. Für Filmjournalist Florian Keller ist die Regisseurin an dieser Entwicklung nicht unschuldig. Für ihn ist «Saudi Runaway» ein unredlicher Film und er kritisiert die Rolle der Regisseurin Susanne Regina Meures. Für Muna ist diese über Wochen die einzige Vertrauensperson. Meures berät aber die junge Frau nicht im Sinne einer Freundin, sondern lenkt sie in die Richtung, wie ‹die Story› zu erzählen ist. Ohne das Filmprojekt hätte sich Muna nicht dafür entschieden zu gehen. Für Keller wirft «Saudi Runaway» deshalb einige grundsätzliche Fragen zur ethischen Verantwortung in Dokumentarfilmen auf. Der Film ist auch nicht ganz ehrlich. Er suggeriert, Muna sei während der ganzen Flucht völlig auf sich allein gestellt. Spätestens beim Zwischenstopp in Minsk wird aber klar, dass sie nicht mehr alleine nur mit dem Handy filmt, dass die Kamera von einer Zweitperson geführt wird. Florian Keller: «Der Film tut so, als wäre Muna auf ihrer Flucht nach Deutschland weiterhin völlig auf sich allein gestellt – und hintertreibt an diesem Punkt seine Maxime eines authentischen Erfahrungsberichts.»
Text: Felix Schenker
Zum Film
Mit der Kamera ihres Smartphones nimmt uns eine junge Frau mit in ihre Welt: eine Existenz hinter geschlossenen Türen, hinter Schleiern, hinter der Fassade einer anständigen Familie. Der Vater und ein oft zitierter zukünftiger Ehemann bestimmen Munas Leben. Als klar wird, dass ihr Reisepass bald abläuft und keiner von beiden einer Verlängerung zustimmen wird, plant sie ihre Flucht aus Saudi-Arabien. Augenblicke ungebrochener Lebensfreude – etwa wenn Muna sich haltlos für das seltene Ereignis eines Wolkenbruchs begeistert – stehen in Kontrast zu ihrer beklemmenden Situation. Ungeachtet des Risikos protokolliert sie heimlich die Höhen und Tiefen ihres Alltags: den trüben Blick durch die Verschleierung und die Unbefangenheit der Frauen untereinander, die schleichende Bedrohung einer näher rückenden Zwangshochzeit und die gemeinschaftlichen Momente muslimischer Feiertage. Susanne Regina Meures setzt allein auf die von ihrer Protagonistin gefilmten Bilder, eine bedachte Montage und wenige Texttafeln. Der Film dokumentiert anhand einer persönlichen Geschichte das asymmetrische Geschlechterverhältnis und die patriarchalen Unterdrückungsmechanismen, die der Staat systematisch absichert. (Synopsis)