Wie bereits im vergangenen Jahr gingen sämtliche Auszeichnungen der drei Wettbewerbe – Prix de Soleure, Visioni und PRIX DU PUBLIC – an Dokumentarfilme. Überhaupt überwiegt der Eindruck, Solothurn werde was Weltpremieren betrifft, zunehmend zu einem Dokumentarfilmfestival – mithin eine Konkurrenz zum Festival Visions du Réel in Nyon. Unter den diesjährigen 23 Weltpremieren langer Filme waren gerade mal vier Spielfilme und davon vermochte keiner zu überzeugen.
Manöverkritik 60. Solothurner Filmtage
- Publiziert am 31. Januar 2025
Eine Manöverkritik
Von Geri Krebs
Enttäuschende Spielfilme
Die wohl allergrösste Enttäuschung war der Spielfilm BERNADETTE WILL TÖTEN von Oliver Paulus. Der Regisseur, der sich mit Filmen wie VIELEN DANK FÜR NICHTS oder TANDOORI LOVE als eigenständige und originelle Schweizer Stimme im Bereich eines sozialkritischen Erzählkinos einen Namen gemacht hatte, versucht sich in seinem neuen Film am Genre des Splatterfilms, schafft jedoch nur eine so pubertäre wie sinnfreie Blut- und Gewaltorgie. Demgegenüber bot ROADS END IN TAIWAN, erster Langspielfilm der Genferin Maria Nicollier wenigstens gepflegte Unterhaltung. Diese erste Koproduktion zwischen der Schweiz und Taiwan ist – wie bereits der Titel verrät – ein Road Movie, das in Taiwan spielt und das einmal mehr zeigte, dass wechselnde Schauplätze einen schwachen Plot auch nicht zu retten vermögen. Auch ein weiterer Erstling einer Filmemacherin, das zwischen Lettland und der Schweiz spielende Sozialdrama BEHIND THE GLASS der schweizerisch-lettischen Regisseurin Olga Dinnikova, vermittelte mit seiner arg klischeebeladenen Drogengeschichte nicht viel mehr als eine durchschnittliche Fernsehproduktion. Da vermochte auch die Präsenz von Marcus Signer in einer Nebenrolle nichts zu ändern. Mit NORMA DORMA, dem zweiten Spielfilm des Zürcher Regisseurs Lorenz Suter, stand ein Beitrag auf dem Programm, der, im Gegensatz zu den beiden vorher genannten, erzählerisch immerhin etwas wagte, sich dabei aber in der Welt zwischen Traum und Realität, in der die titelgebende Nora steckt, häufig zu verlieren drohte.
Solothurner Filmtage unter Druck
Natürlich gab es grosse und gelungene Spielfilme im diesjährigen Solothurn-Programm, aber eben nicht als Premiere. Mehr noch als in früheren Jahren setzt sich ein Trend fort: Die «grossen Kisten» gehen kaum nach Solothurn. Locarno und das Zurich Film Festival graben Solothurn immer stärker das Wasser ab. Unter den Filmen, die bereits in Locarno zu sehen waren, fanden sich etwa ELECTRIC CHILD oder der – mit Nominationen für den Schweizer Filmpreis überhäufte – DER SPATZ IM KAMIN. Während FRIEDAS FALL und MOTHER MARA, zwei Highlights im aktuellen Schweizer Spielfilmschaffen, den schon vor Jahren verkündeten Anspruch von ZFF-Direktor Christian Jungen verdeutlichen, sein Festival sei der einzig wahre Ort, an dem neue Schweizer (Spiel-)Filme einen gebührenden Platz erhalten.
Gräbt Solothurn hinsichtlich Schweizer Spielfilme immer mehr das Wasser ab: das Zurich Film Festival Foto: ZFF-Direktor Christian Jungen mit der deutschen Schauspielerin Iris Berben.
Prix de Soleure
Wenn von grossen und gelungenen Spielfilmen die Rede ist, die in Solothurn zu sehen waren, darf BAGGER DRAMA nicht fehlen. Der erste Spielfilm des talentierten Berner Regisseurs Piet Baumgartner wurde 2024 bei seiner Weltpremiere am Filmfestival von San Sebastián mit dem Hauptpreis als bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet. Nur wenige Tage vor seiner Schweizer Premiere kamen am renommierten Festival Max Ophüls von Saarbrücken der Drehbuch- und der Regiepreis dazu. Der Preissegen, den BAGGER DRAMA bisher erfahren durfte, kann eine Erklärung dafür sein, warum der Film als einer von sechs im Wettbewerb des Prix de Soleure nicht erneut ausgezeichnet wurde. (Ein Interview mit Regisseur Piet Baumgartner finden Sie weiter unten.) Stattdessen gab die Jury dem Dokumentarfilm IMMORTALS von Maja Tschumi den Vorzug. Die Regisseurin wurde 2022 mit ROTZLOCH bekannt, einem Porträt mehrerer Flüchtlinge an dem titelgebenden abgelegenen Ort im Kanton Nidwalden. Ihr neuer Film, IMMORTALS zeigt ein unglaublich mutiges Protagonist:innenpaar der blutig niedergeschlagenen Demokratiebewegung im Irak vom Herbst 2019 – und was aus ihnen geworden ist.
Gewinnt den Prix de Soleure: IMMORTALS
Krieg und Krisen
Bei den sechs für den Prix de Soleure nominierten Filmen – von BAGGER DRAMA einmal abgesehen – ist interessant, dass sich alle in Gebieten gegenwärtiger oder vergangener Kriege oder Krisen bewegen. In IL RAGAZZO DELLA DRINA ist es Bosnien-Herzegowina, das Land, in dem HOTEL SILENCE spielt, erinnert an Georgien, wo auch der Dokumentarfilm DOM verortet ist und UNTER MANGOBÄUMEN begleitet seine Zuschauer:innen nach Sri Lanka. Vor allem UNTER MANGOBÄUMEN hinterlässt einen der stärksten Eindrücke unter den Weltpremieren an den Filmtagen. Der Film dokumentiert das Leben ehemaliger Soldatinnen der Tamil Tigers in der Schweiz und Sri Lanka. Es wird eindrücklich erlebbar, was der Irrsinn des 2009 zu Ende gegangenen Krieges mit diesen Frauen gemacht hat. Zum einen überzeugt UNTER MANGOBÄUMEN durch seine so behutsame Annäherung an die Schicksale dieser ehemaligen Kämpferinnen und zum andern durch die Differenziertheit, mit der die Geschichte des Krieges zwischen den Tamil Tigers und den sri-lankischen Regierungstruppen aufgezeigt wird. Man kann sich nur wünschen, dereinst möge jemand einen so differenzierten Film zum Nahostkonflikt machen.
UNTER MANGOBÄUMEN, behutsam und differenziert, ein Highlight in Solothurn.
Palästina?
Erstaunlicherweise erschien der Nahostkonflikt im ganzen Programm der über 150 Titel der diesjährigen Filmtage nur am Rande in einem halblangen Dokumentarfilm einer jungen Solothurner Regisseurin. HABIBI SAMI hiess der knapp halbstündige Film, in welchem die 1992 in Niederbipp geborene Lesley Kennel den Palästinenser Sami Daher porträtierte. Als Besitzer der hinter dem Restaurant Kreuz gelegenen «Pittaria» geniesst er lokale Bekanntheit. «Mich hat seine Herzlichkeit berührt», schwärmte Lesley Kennel in der «Solothurner Zeitung» vom 24. Januar. Nicht ganz so herzlich war der Pittaria-Wirt Anfang Oktober 2023: Drei Tage nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober liess er sich im «Blick» so vernehmen: «Ich spürte einen gewissen Stolz, dass wir Palästinenser militärisch zu so einem Schlag überhaupt fähig sind.»
Lobhudelei
Eine andere durchaus kontroverse Figur porträtierte Regisseur Laurin Merz in einem Film, der in Solothurn ebenfalls seine Weltpremiere feierte – und der ebenfalls eine reine Lobhudelei war: Lukas Bärfuss (LUKAS BÄRFUSS – SCHRIFTSTELLER). Die Tatsache, dass es sich bei ihm um einen der wichtigsten – aber vielleicht auch etwas überschätzten – einheimischen Literaten seiner Generation handelt, soll hier überhaupt nicht in Abrede gestellt werden. Aber dennoch: Ein bisschen kritischer hätte Laurin Merz sich dem Mann mit dem stets grimmigen Gesicht annähern können. So hatte dieser etwa kürzlich in einem Interview der «SonntagsZeitung» (29.12.2024) auf die Frage, was er mit den 350 000 Franken mache, die er für den Verkauf seines Archivs an das Schweizerische Literaturarchiv (die höchste Summe, die die Schweiz je einem Literaten bezahlt hat) erhalten hatte, geantwortet: «Das geht niemanden etwas an.»
Grössenwahnsinniger Egomane
Es stellt sich die Fragen, warum sollen Filmschaffende überhaupt sympathische Menschen porträtieren? Das fragte sich an den Filmtagen eine Gesprächsrunde, die im Rahmen der Fokusreihe «Biopics» stattfand. Eine mögliche Antwort auf diese Frage gab der so vielfältig schillernde wie distanzierte und doch empathische Dokumentarfilm BARLUSCHKE von Thomas Heise. Der 2024 verstorbene Regisseur begleitete in seinem 1997 entstandenen Porträt den Stasi-Offizier Berthold Barluschke. Dieser so sinistre wie grössenwahnsinnige Egomane wechselte 1985 die Seiten und diente sich dem Bundesdeutschen BND an. Später nach der Wende versank er in der Bedeutungslosigkeit. Peter Badel, Heises Kameramann, stellte den Film in Solothurn vor und erzählte, wie Heise als Lehrer an der Filmschule seinen Studierenden den Rat gab, sie sollten bei der Auswahl ihrer Figuren für einen möglichen Dokumentarfilm statt im Familien- oder Freundeskreis besser bei Fremden suchen, das ergebe oftmals die interessanteren Filme.
Den Jura entfalten
Die interessantesten Filme gab es in der thematischen Retrospektive-Reihe «Den Jura entfalten» zu entdecken. 19 lange und ebenso viele kurze Film wurden präsentiert. Im Zentrum stand dabei stets die grandiose Landschaft, die sich von Baselland bis Genf und dann bis weit hinein nach Frankreich erstreckt. Die Filmtage-Leitung vermerkte nicht ohne Stolz, dass die filmischen Beiträge elf Jahrzehnte umfassten, der älteste, IMAGES DU VAL DE TRAVERS, ist von 1910 und die beiden neuesten, die schwarze Komödie UN OURS DANS LE JURA und die Coming-of-Age-Komödie VINGT DIEUX, datieren vom vergangenen Jahr. Neben zahlreichen anderen, darunter ein atemberaubender Dokumentarfilm über einen Klippenspringer, LE PLONGEUR von 1936, hat es uns vor allem VINGT DIEUX der jungen französischen Regisseurin Louise Courvoisier angetan. Der Film, der seine Weltpremiere 2024 am Filmfestival Cannes in der Reihe Un Certain Regard feierte, hat alles, was Kino zum reinen Vergnügen macht: Spektakel, verrückte Einfälle, Spannung, Tragik, absurden Humor und Protagonist:innen, die einem sofort ans Herz wachsen. Und das Unglaubliche: Silvie Courvoisier hat ausschliesslich mit Laiendarsteller:Innen gedreht, die alle in dieser Gegend, einer der entlegensten des französischen Jura, leben und die hier weitgehend sich selber spielen. Dabei bleibt in dieser Geschichte von einem etwas linkischen Bauernburschen, der nach dem plötzlichen Tod seines Vaters zusammen mit seiner kleinen Schwester plötzlich alleine einen hoch verschuldeten Hof über die Runde bringen muss, bei aller Tragik vor Lachen kein Auge trocken. Und wenn der Bursche am Ende seine angehimmelte Jungbäuerin zu bekommen scheint, hofft man nur, dieses Happy End möge so bleiben. Der Film, der in der Romandie bereits Mitte Dezember in die Kinos gekommen ist, hat sich dort bereits zu einem grossen Erfolg entwickelt und wird im April auch in der Deutschschweiz in die Kinos kommen.
Wohl einer der besten Filme überhaupt, der in Solothurn zu sehen war: VINGT DIEUX