Jafar Panahi zählt zu den bedeutendsten und mutigsten Regisseuren unserer Zeit. Trotz Repressionen im Iran wurde er mehrfach mit den wichtigsten europäischen Filmpreisen ausgezeichnet, darunter die Palme d’Or 2025 für UN SIMPLE ACCIDENT. In seinem neuen Film verbindet er scharfsinnige Dialoge, schwarzen Humor und Spannung zu einem eindrücklichen Gesellschaftsporträt. Im Gespräch erklärt Panahi, wie das Drehbuch im Gefängnis entstand – und warum er in den Iran zurückkehren will.
Jafar Panahi | IT WAS JUST AN ACCIDENT
- Publiziert am 15. August 2025
«Die einzige Möglichkeit für eine bessere Zukunft in meinem Land ist, dass der Kreis der Gewalt durchbrochen wird.»
Auszeichnungen von Jafar Panahi
THE WHITE BALLOON | 1995 | Goldene Kamera – Bester Erstlingsfilm bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes
THE MIRROR | 1997 | Goldener Leopard – Hauptpreis beim Locarno Film Festival
THE CIRCLE | 2000 | Goldener Löwe – Hauptpreis bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig
CRIMSON GOLD | 2003 | Prix du Jury – Un Certain Regard bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes
OFFSIDE | 2006 | Silberner Bär – Grosser Preis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin
THIS IS NOT A FILM | 2011 | Carrosse d’Or beim Festival de Cannes
TAXI TEHERAN | 2015 | Goldener Bär bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin
DREI GESICHTER | 2018 | Bestes Drehbuch bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes
NO BEARS | 2022 | Spezialpreis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig
UN SIMPLE ACCIDENT | 2025 | Palme d’Or bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes
Mit Jafar Panahi sprach Geri Krebs
Herr Panahi, genau vor 30 Jahren, im August 1995, waren Sie erstmals in Locarno – damals auf der Piazza Grande mit Ihrem allerersten Film THE WHITE BALLOON. Wie ist es jetzt für Sie, wieder hierher zurückzukehren?
Ich erinnere mich noch gut an dieses unglaubliche Erlebnis: den Film, nachdem er im Mai zuvor in Cannes die Camera d’Or für den besten Erstlingsfilm gewonnen hatte, vor 8000 Menschen auf diesem wunderschönen Platz präsentieren zu können. Und das Unglaublichste war: Etwa in der Mitte des Films fing es an zu regnen – doch die Leute blieben. Das war ein ganz besonderes Gefühl, das ich nie vergessen werde. Ich war danach noch zwei weitere Male in Locarno: 1997 mit meinem nächsten Film, THE MIRROR, und 2002 war ich Mitglied der Jury des Concorso internazionale. Ich erinnere mich noch, dass Béla Tarr damals einer meiner Jurykollegen war. Seither war ich nicht mehr in Locarno. Es ist natürlich ein grossartiges Gefühl, nach so vielen Jahren wieder hier zu sein – und ich bin schon ein bisschen nervös, wie mein neuer Film beim Piazza-Publikum ankommen wird.
UN SIMPLE ACCIDENT ist bereits Ihr elfter langer Spielfilm. Im Gegensatz zu Ihren vorherigen Filmen, die Sie mehr oder weniger heimlich realisieren mussten, wirkt es diesmal, als hätten Sie einigermassen ungehindert drehen können. Stimmt das?
Nein, ich habe auch UN SIMPLE ACCIDENT gewissermassen heimlich und ohne Genehmigung realisiert. Die würde ich auch niemals bekommen. Zudem wäre es ein wahnwitziger, bürokratischer Hindernislauf. Zuerst müsste man das Drehbuch der Zensurbehörde vorlegen. Falls das Drehbuch erfolgreich alle Instanzen der Zensur durchlaufen hat, folgt der Hindernislauf der Drehgenehmigungen. Und wenn der Film fertig ist, schaut sich eine weitere Zensurbehörde den Endschnitt an und kann den fertigen Film jederzeit beschlagnahmen.
Aber Sie haben insofern recht, als es im Vergleich zu meinen vorherigen fünf Filmen – angefangen bei THIS IS NOT A FILM (2011), den ich ganz unter den Bedingungen des Hausarrests bei mir zu Hause realisiert habe, bis zu NO BEARS (2022) – bei UN SIMPLE ACCIDENT doch einen kleinen, wenn auch nicht unwesentlichen Unterschied gab.
Welchen?
Das Ausreiseverbot, das mir 15 Jahre lang auferlegt worden war, wurde vor ein paar Monaten aufgehoben. Ich bekam meinen Pass zurück. Deshalb konnte ich überhaupt im Mai mit dem Film nach Cannes reisen und sitze jetzt auch hier im schönen Locarno vor Ihnen.
Werden Sie in den Iran zurückkehren?
Selbstverständlich, es ist meine Heimat. Ich komme zwar jetzt direkt aus Paris, aber ich war davor – also nach dem Filmfestival von Cannes – während einiger Wochen im Iran und werde, wie gesagt, bald auch wieder zurückkehren. Das ist auch der Grund, weshalb ich – wie Ihnen ja bereits seitens des Filmverleihs mitgeteilt wurde – in diesem Gespräch keine Fragen zur aktuellen politischen Situation im Iran beantworten kann, wofür Sie sicher Verständnis haben.
Ich möchte etwas über die Entstehungsgeschichte des Drehbuchs wissen. Wie stark sind die Geschichten der fünf Protagonist:innen realen Personen nachempfunden?
Wie Sie ja wahrscheinlich wissen, war ich von Juli 2022 bis Februar 2023 im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert. Die meiste Zeit war ich in einer Zelle mit meinem Freund und Filmemacherkollegen Mohammad Rasoulof. Wir tauschten uns dauernd über Filme und Filmideen aus. Oft waren wir auch mit vielen anderen Gefangenen zusammen und hörten deren Geschichten. Immer wenn man mich verhörte, wurden mir die Augen verbunden. Insofern ist die Idee für die Figur des Hauptprotagonisten Vahid ein Stück weit von meinen eigenen Erfahrungen inspiriert. Die anderen vier Figuren entstanden teils direkt aus Geschichten von Leidensgenossen, die mit mir in der Massenzelle waren, teils aus Erfahrungsberichten, die ich hörte, als ich wieder draussen war.
Jede:r der fünf Protagonist:innen repräsentiert eine bestimmte Gruppe der heutigen iranischen Gesellschaft. Letztlich spaltet sich diese in zwei Teile: jene, die an die Notwendigkeit von Gewalt glaubt, und jene, die für einen friedlichen Umgang miteinander plädiert. Ich versuche in meinem Film zu zeigen, dass zwischen diesen beiden Teilen der Gesellschaft ein Dialog stattfinden muss.
Kann man sagen, dass die Hauptaussage des Films ist, dass Rache zu nichts führt?
Ich würde eher sagen, es ist ein Film über das Ende der Gewalt. Die einzige Möglichkeit, die ich für eine bessere Zukunft in meinem Land sehe, ist, dass der Kreis der Gewalt durchbrochen werden muss.