Er ist ein Newcomer im Filmgeschäft und bei den 80. Internationalen Filmfestspielen von Venedig bereits mit den Marcello-Mastroianni-Preis ausgezeichnet worden: Der junge Senegalese Seydou Sarr. Im Interview verrät er uns, welche Szene von IO, CAPITANO bei ihm besonders nachklingt und welche Lektion die wichtigste ist, die ihm seine Mutter erteilt hat.
IO CAPITANO | Interview Seydou Sarr
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«Wenn sich die Gelegenheit ergibt, würde ich gerne im Filmgeschäft bleiben, ohne meinen Traum Fussballer zu werden, zu vernachlässigen.»
IO, CAPITANO | Synopsis
Die beiden jungen senegalesischen Männer Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) nutzen ihre geringen Ersparnisse, um sich einen Traum zu erfüllen: Sie wollen nach Europa koste es, was es wolle. Ohne ihre Familie zu informieren, begeben sie sich auf eine scheinbar endlose Reise durch die überfüllten Strassen Dakars über das Mittelmeer vorbei an der Bedrohung durch die libyschen Gefängnisse.
IO, CAPITANO | Interview Djamila Zünd
Wie kam es zur Begegnung mit Regisseur Matteo Garone?
Ich habe Matteo im Senegal ganz zufällig kennengelernt. Mein Traum war es, Fussballer zu werden. Jetzt bin ich Schauspieler! Zu meiner grossen Überraschung wurde ich nach einer ersten Runde ein weiteres Mal zum Vorsprechen eingeladen. Diesmal in Dakar zusammen mit meinem späteren Weggefährten Moustapha Fall. Wir mussten dem Casting-Direktor davon überzeugen, dass die Chemie zwischen Moustapha und mir stimmt, immerhin spielen wir im Film Cousins.
Wie sind Sie als Film-Neuling an die Arbeit herangegangen?
IO, CAPITANO ist tatsächlich mein erster Film. Die Leinwand mit bereits etablierten Schauspielern zu teilen, stellte eine Herausforderung dar. Da das Drehbuch in Italienisch und Französisch geschrieben war, musste ich Szene für Szene mit einer Übersetzerin aufarbeiten, um den Inhalt auf Wolof zugänglich zu machen.
Können Sie uns den Entstehungsprozess von Seydou, den Sie im Film spielen, schildern, vom Casting bis zu den Dreharbeiten?
Vom Casting, über die Kostümproben bis hin zu den Dreharbeiten in Marokko ging alles sehr schnell. Die Gefängnis- und Wüstenszenen wurden in Casablanca und an anderen Orten in Marokko gedreht, so dass wir Libyen vermeiden konnten. Die Dreharbeiten dauerten insgesamt drei Monate, in denen ich jeden Tag damit verbrachte, meine Figur weiter zu entwickeln, wobei ich stets um Authentizität bemüht war.
Im Film macht sich Seydou einen Spass daraus, Lieder zu komponieren. Sie haben diese angeblich selber geschrieben.
Ja! zusammen mit Moustapha. Für uns war das wirklich einzigartig und herausfordernd! Es ist ein Traum von mir, Sänger zu werden und in Europa und auf der ganzen Welt Autogramme zu geben.
Bei den 80. Internationalen Filmfestspielen von Venedig haben Sie den Marcello-Mastroianni-Preis als bester Nachwuchsdarsteller erhalten.
Ja, das war eine grosse Ehre.
In Ihrer Dankesrede erwähnten Sie Ihre Mutter und ihre Rolle während den Dreharbeiten.
Ihre Anwesenheit, zusammen mit der meiner Schwester, war ein ständiger Trost. Sie hat mich ermutigt, und sich die Zeit genommen, mich anzuleiten und zu korrigieren, wenn es nötig war. Eine ihrer wertvollsten Lektionen war eine einfache, aber grundlegende: «Sei du selbst!». Meine Mutter vermittelte mir die Bedeutung von Authentizität in meiner Performance. Sie betonte, dass der Schlüssel nicht nur darin bestand, natürlich zu sein, sondern vor allem darin, sich selbst treu zu bleiben.
IO, CAPITANO spiegelt reale Geschichten und die harter Realität von Migranten. Wie sind Sie während der Dreharbeiten mit den Emotionen umgegangen?
Vor dem Film kannte ich niemanden, der die gleiche Reise wie meine Figur machte. Die Treffen, die das Filmteam mit Menschen in Marokko organisierte, die die Erfahrung gemacht haben, hatten eine tiefgreifende Wirkung auf mich. Glücklicherweise unterstützte mich das ganze Team. Selbst in emotional angespannten Momenten blieb die Atmosphäre positiv. Wir lachten während des Schminkens und die Atmosphäre entspannte sich sofort. Wir waren bald mehr als ein Team, wir wuchsen zu einer Familie zusammen.
Die Szene, in der Ihre Figur mental mit einem Engel reist, ist durchdrungen von Elementen der senegalesischen Tradition. Können Sie sie für uns entschlüsseln?
Sehr gerne! Zu Beginn des Films geht Seydou mit seinem Cousin Moussa zum Dorfmarabut, um den Segen der Ahnen zu erhalten – ein wichtiger Schritt, bevor die beiden Jungs ihre Reise beginnen. Nachdem sie das Einverständnis bekommen haben, machen sie sich auf den Weg. Doch im Laufe der Geschichte wird Seydou eingesperrt und gequält. Er führt in einem Traum einen Dialog mit einem geheimnisvollen Gesprächspartner. In Begleitung eines Engels kehrt Seydou in sein Dorf zurück, um seine Mutter zu trösten und ihr zu versichern, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Der Engel greift ein und bietet seine Unterstützung in diesen schwierigen Zeit an. Man muss bedenken, dass Seydou ohne die Zustimmung seiner Mutter fortgegangen ist.
Der Film sagt viel über Senegal aus.
Ja, IO, CAPITANO ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft: der Reichtum des senegalesischen Animismus, der harmonisch mit unseren katholischen, christlichen und muslimischen Traditionen koexistiert. Diese kulturelle Verschmelzung kommt in Matteos Film voll zum Ausdruck. Die Botenfigur ist zwar traditionell gekleidet, verkörpert aber einen Engel, der gute Nachrichten überbringt. Sie ist eine Darstellung der Harmonie zwischen religiösen und traditionellen Einflüssen, was eine komplexe und vielfältige kulturelle Realität schildert.
Gibt es eine bestimmte Film-Szene, die besonders bei Ihnen nachklingt?
Besonders jene, die wir in der Wüste von Marokko gedreht haben. Es war ein unglaublich emotional aufgeladener Augenblick. Ich stand da, mit der sterbenden Frau in meinen Armen, und ich war der Situation völlig hilflos ausgeliefert. In mir kamen verschüttete Erinnerungen hoch, besonders auch an den Tod meines Vaters, der erst sechs Monate zurücklag. Das war wirklich schwierig. Dieses Erlebnis hat mir in gewisser Weise geholfen, die Szene besser zu spielen, aber es war eine harte Prüfung, eine erneute Konfrontation mit Emotionen, von denen ich dachte, dass ich sie bereits überwunden habe.
Haben Sie nach diesem Crashkurs im Bereich Film vor, sich weiterhin in der Welt der siebten Kunst zu bewegen, oder haben Sie andere Träume?
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, würde ich gerne im Filmgeschäft bleiben, ohne meinen bereits werwähnten ursprünglichen Traum, Fussballer zu werden, zu vernachlässigen. Auch das Komponieren von Liedern gehört zu meinen Talenten.
Sie sagen, Sie wollen das Publikum für eine bestimmte Botschaft sensibilisieren, welche ist das?
Ich möchte alle dazu ermutigen, über Ungerechtigkeiten nachzudenken. Ich hoffe aufrichtig, dass dieser Film der Welt die Augen für die Realität öffnet, die einige Migrant:innen erleben, und dass es in Zukunft zu mehr Gerechtigkeit und bedeutenden Veränderungen kommt.