Nach «La Nuée» präsentiert der französische Regisseur Just Philippot «Acide». Sein Film ist ein angstbesetzter Wettlauf gegen die Zeit, der das Intime mit dem Ausmass eines Katastrophenfilms verbindet. Ein erschreckend aktueller Film. arttv.ch hat den Regisseur am Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) getroffen.
Interview Just Philippot | Acide
Interview von Lliana Doudot
Ihr Film «Acide» war der Abschlussfilm des NIFFF 2023, das ein besonderes Festival ist, da es sich auf den fantastischen Film konzentriert. Wie ist Ihr Verhältnis zu diesem Genre?.
Etwas seltsam, denn ich habe nicht das Gefühl, dass ich mit «Acide» einen fantastischen Film gemacht habe. Das Besondere scheint mir, dass mein Film eine Art Hybrid zwischen Autorenfilm und spektakulärem, populärem Kino ist. In Frankreich bezeichnet man alle Filme, die etwas aus der Reihe fallen schnell als Genrefilme, im Rest der Welt ist das einfach nur Kino. Ich war froh, meinen Film am NIFFF zeigen zu können. Es sind Orte wie diese, an denen man an anderen, radikaleren und gewagteren Filmformen forschen kann. Hier wird jene Art von Kino gezeigt, man spürt die Spannung, die bei solchen Festivals in der Luft liegt. Das Publikums hat Lust, sich unterschiedliche Dinge anzusehen.
«Acide» handelt u. a. von den Folgen der globalen Erwärmung mit dem Auftreten von saurem Regen, der Chaos verursacht. Woher kam der Wunsch, sich diesem Thema anzunehmen? Ist es aus einer Öko-Angst heraus entstanden?
Ich bekam vom Produzenten eine Carte blanche, um einen Fantasyfilm zu schreiben. Ich habe jenes Motiv gewählt, das mir am persönlichsten erschien. Ich habe mich dabei auf einen Kurzfilm gestützt, den ich vor einigen Jahren gedreht hatte. Ich dachte mir, wenn ich etwas erzählen soll, das für die Leute mit Angst behaftet ist, dann wähle ich ein Thema, das mir selber auch Angst macht. Ich überlegte mir, vor welcher Katastrophe ich am hilflosesten bin. Ich wollte ein Kinospektakel machen: Ich wollte sehr starke Emotionen zeigen, dies aber auf eine ehrliche Art und Weise. Mein Film soll nicht die Geste eines Umweltaktivisten sein, der Lektionen erteilen möchte. Ich wollte aber dennoch sehr ernsthaft über dieses Thema sprechen und die Öko-Angst der jungen Generation ernst nehmen. Sie wiegt schwer, aber bringt auch Lösungen und einen neuen Blickwinkel mit sich. Der ganze Film ist um die 16-jährige Selma und ihren Blick auf das Heute und das Morgen herum aufgebaut. Wir brauchen diesen Blick auf morgen, um neue Dinge zu entwickeln.
Der Kampf um soziale Gerechtigkeit ist ebenfalls in Ihrem Film sehr präsent, mit der Figur von Michal, der Arbeiter in einer Fabrik ist. Haben Sie sich von den sozialen Unruhen inspirieren lassen, die seit einigen Jahren in Frankreich vor sich gehen? War es für Sie logisch, die soziale mit der ökologischen Frage zu verknüpfen?
Ja! Ob uns das Ende der Welt bevorsteht oder ob man bis zum Ende des Monats kaum auskommt, sind miteinander verbundene Themen. Man kann nicht über Katastrophen im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung sprechen, ohne zu erklären, woher sie kommen. Man muss gleichzeitig aufzeigen, wie krank die Gesellschaft in der wir leben, auf mehreren Ebenen ist, insbesondere auf der sozialen. Wir sitzen in Frankreich seit geraumer Zeit auf glühenden Kohlen, alles brennt lichterloh. Ich konnte also nicht über «Acide» sprechen, ohne auch diese Dinge anzusprechen. Für mich war der Film eine gute Möglichkeit, uns allen den Spiegel vorzuhalten, Figuren vorzustellen, die reale Menschen unserer Zeit sind und nicht die einer fiktiven Hollywood-Geschichte. Es geht um Männer und Frauen wie Sie, wie ich, wie wir. «Acide» ist eine Story von heute, die von einer explosiven sozialen Wut getragen wird. Das hat dem Film seine Art von Hyperrealismus verliehen, der ihn auszeichnet.
Haben Sie beim Schreiben des Drehbuchs bereits an Guillaume Canet, Laetitia Dosch und Patience Munchenbach als Darsteller ihrer Film-Familie gedacht?
Nein, ich stellte mir sehr verschwommene Gesichter ohne einen bestimmten Körperbau vor. Ich wollte aber schon lange mit Laetitia arbeiten, und es war für mich darum sofort gegeben, sie in die Erzählung von «Acide» einzubeziehen. Ich suchte dann nach dem Vater, und es stellte sich heraus, dass Laetitias Agentin auch die Agentin von Guillaume ist. Ich dachte über die ambivalenten und komplexen Charaktere nach, die er bereits gespielt hatte und es war für mich schnell logisch, dass er die richtige Besetzung ist. Er bringt eine Härte mit, die es braucht, um diesen Charakter auszufüllen. Grossartig war, dass Guillaume mich, als ich ihm das Drehbuch vorlegte, dazu drängte, die düstere Seite von Michals Charakter noch weiter auszubauen. Guillaume ist ein sehr präziser Mensch, der sich im Vorfeld sehr gut vorbereitet hat. Bei Patience, die die Tochter spielt, merkte ich sehr schnell, dass sie einen guten Sinn für das Spiel und die Improvisation hat. Sie ist zudem ein junges Mädchen, das etwas zu sagen hat.
«Acide» ist erst Ihr zweiter Film. Er wurde unter anderem in Cannes gezeigt und fürs NIFFF 2023 ausgewählt. Sicher ein guter Moment!
Wenn man einen Film fertiggestellt hat, überkommt einen das Gefühl, alles gegeben zu haben. Es ist physisch und psychisch anstrengend, für einen selbst und das Umfeld. Man ist wirklich in einer Blase. Wenn die Kritik auf dein Werk positiv ist, ist das grossartig. Wenn sie negativ ist, ist es extrem schwierig, damit zu leben. Man musst sich ständig vor der Resonanz rund um deinen Film schützen, denn es kommt immer ein Punkt, an dem man nicht mehr wirklich versteht, was vor sich geht. Aber ich will mich nicht darüber beschweren, weil ich einen unglaublichen Beruf habe. Ich war wie im Rausch und habe alles, was ging, mitgenommen, darunter einige ganz grossartige Dinge. Ich habe gelernt, die weniger tollen Angelegenheiten auf Distanz zu halten, um mich zu schützen. Irgendwie muss man ein Gleichgewicht finden, um zu vermeiden, dass man Dinge, die eigentlich nur Spass machen sollten, zu ernst nimmt.
Dieses Interview wurde gekürzt, die Originalversion finden Sie in französischer Sprache auf clickcinema.ch