Die Schweizer Filmemacherin Anja Kofmel war 10, als ihr Lieblingscousin Chris ermordet wurde. In ihrem Film «Chris the Swiss» begibt sie sich fast 20 Jahre später auf Spurensuche in Ex-Jugoslawien und versucht herauszufinden, warum wohl der mutige Schweizer Journalist zum (vermutlich) brutalen Söldner mutierte – und dafür mit dem Leben bezahlte. Im Gespräch mit arttv erzählt Kofmel, wie ihre Familie auf den Film reagierte und wie enorm schwierig sich dessen Realisierung gestaltete.
Interview Anja Kofmel | Regisseurin von Chris the Swiss
Von der bereichernden, aber auch äusserst schwierigen Hochzeit des Dokumentarfilmes mit dem Animationsfilm.
Fast 10 Jahre lang arbeiteten Sie an «Chris the Swiss». Sie haben ganz schön Ausdauer!
Es war in der Tat eine sehr schwierige Produktion, und es ist sicher gut, dass ich vor 10 Jahren keine Ahnung hatte von all den Problemen, die auf mich zukommen würden – sonst hätte ich vielleicht gar nie damit angefangen …
Wieso, was ist passiert?
Hauptproblem war sicher die Tatsache, dass mein Film ein Hybrid ist – eine Kombination von Dok- und Animationsfilm. Diese beiden Genres sind in der Herstellung nämlich vollkommen entgegengesetzt: Beim Dokfilm hat man ein Konzept und geht mit der Kamera Material sammeln, der eigentliche Film aber entsteht erst im Schnittraum – es geht also darum, möglichst lange flexibel zu bleiben und aus dem vorhandenen Material die beste Geschichte zu formen. Bei der Animation hingegen ist es genau umgekehrt: Weil die Bildproduktion so aufwändig ist, musst du dich möglichst früh festlegen und spätere Änderungen sind fast nicht mehr möglich, beziehungsweise sehr teuer. Diese beiden vollkommen anderen Vorgehensweisen sind bei der Herstellung meines Filmes dementsprechend aufeinandergeprallt. Ich musste als Regisseurin permanent den Spagat machen zwischen Noch-Nicht-Genau-Wissen, wohin der Film führt und gleichzeitig für die Animation bereits Detailentscheide fällen. Das war wirklich sehr stressig, und ich wusste bis zum Schluss nicht, ob das, was ich mir vorstellte, auch wirklich funktionierte.
Wieso haben Sie sich für diese Hybrid-Form entschieden?
Ich komme aus dem Bereich der Animation, animierte Zeichnungen sind mein Ausdrucksmittel – der Bereich des Dokfilms hingegen war Neuland für mich. Die Mischform war aber nicht von Anfang an geplant, sondern hat sich vielmehr so ergeben. Ich hatte bereits meinen Abschlussfilm an der Hochschule in Luzern meinem Lieblingscousin «CHRIS» gewidmet, dessen mysteriöser Tod mich meine ganze Kindheit lang beschäftigte. Ich beschränkte mich in diesem Kurzfilm auf meine Erinnerungen, das heisst, es ist in diesem Film nichts drin über den Balkankrieg und eigentlich auch sehr wenig über Chris. Es ging mir bei diesem Projekt wirklich um die Bilder in mir drin – darum, was die Nachricht von Chris’ Tod in mir ausgelöst hatte. Ich habe bei der Arbeit an diesem Kurzfilm aber erkannt, dass eigentlich noch sehr viel mehr in diesem Thema drin steckte, da es doch eine recht verrückte Geschichte ist, wenn ein Schweizer Journalist in diesem Krieg ums Leben gekommen ist und das unter Umständen, die keiner näher kannte. Nach meinem Studienabschluss habe ich deshalb den Langfilm in Angriff genommen – um eben herauszufinden, was damals wirklich passierte. Geplant war ursprünglich ein reiner Dokumentarfilm. Doch beim Recherchieren wurde mir rasch klar, dass ich diese Geschichte im Realen nie zusammenbringen würde. Dafür war ich 25 Jahre zu spät! Ich stiess auf unterschiedlichste Verschwörungtheorien, denn es gehört zur Strategie der Söldner, Fehlinformationen zu streuen. Doch keiner wusste, was wirklich stimmte und was erfunden war.
Der fiktive Animations-Part in Ihrem Film entstand aufgrund fehlender Fakten?
Nicht nur. Ich habe damals ausserdem den dokumentarischen Animationsfilm «Waltz with Bashir» gesehen, der mich sehr begeisterte. Bei diesem Film gefielen mir ganz besonders jene Szenen, die subjektiv und surrealistisch sind und wo der Regisseur mit Symbolbildern arbeitete, um die Gefühle einer Person rüberzubringen. Andere Teile dieses Filmes hingegen, die in Animationen das Reale wiedergeben, fand ich etwas weniger überzeugend. Ich finde, dass die Animation im Bereich der Emotionen in Bezug auf komplexe Themen sehr stark ist, es aber andere Bereiche gibt, wo der Dokumentarfilm sehr viel mehr leisten kann. In jener Szene in meinem Film beispielsweise, wo Chris’ Mutter vom Tod ihres Sohnes erzählt, und es passiert dabei so viel an Mimik in ihrem Gesicht – das sind Informationen auf der Meta-Ebene, die man zeichnerisch fast nicht rüberbringen kann. Genau aus diesen Umständen heraus verspürte ich eben den Wunsch, diese beiden Formen zu kombinieren. Aber ganz ehrlich – wie oft habe ich mich dafür in all den Jahren der Produktion verflucht, weil es wirklich nicht einfach war!
Chris war der Held ihrer Kindheit, doch in Ihrem Film beginnt die Heldenfassade mit jeder Minute mehr zu bröckeln. Lernten Sie die dunklen Seiten Ihres Cousins erst während der Recherche kennen oder wussten Sie schon vorher davon?
Chris’ trug eine Söldner-Uniform, als er tot aufgefunden wurde, und verschiedene Journalisten haben damals ja auch recherchiert. Wir haben als Familie also gewusst, dass etwas nicht stimmte. Auch den Namen «Flórez» kannten wir schon, jenen Kommandanten der Söldnerbrigade, den ich im Film als «bad guy» dargestelle und der wie Chris ursprünglich Journalist war. Als dann aber dieser Flórez noch während den Recherchen für meinen Abschlussfilm ebenfalls umgebracht wurde, entstand eigentlich erstmals die Idee, dass es spannend wäre, in einem grösseren Film dem Thema vertieft nachzugehen.
Und wie reagierte Ihre Familie auf dieses Vorhaben?
Das war für mich der kritischste Moment überhaupt, denn ich bin ja nicht nur Regisseurin, sondern auch Familienmitglied. Ich habe meiner Familie deshalb schon ganz am Anfang klar mitgeteilt, dass sie mir vertrauen müssen, und sie sind darauf eingestiegen. Sonst hätte ich diesen Film nicht machen können.
Selbst auf die Gefahr hin, dass Sie Dunkles über Ihren Cousin ausbuddeln würden?
Meine Familie wusste von Anfang an, dass es mir nicht darum ging, Chris als Held darzustellen, sondern darum, möglichst nah an die Wahrheit ranzukommen, und dass dabei vielleicht auch Dinge rauskommen würden, die ihn in ein schlechtes Licht stellen. Der Bruder von Chris nennt ihn im Film ja irgendwann ein Arschloch. Doch in diesem «Arschloch» steckt eine ganze Palette von Gefühlen mit drin: der Schmerz, die Liebe, die Enttäuschung. Ich denke, dass genau dieses Gefühl repräsentativ ist auch für andere Familien, die vielleicht einen Extremsportler in der Familie haben, einen Workaholic oder sonst jemanden, der mit seiner extremen Lebensweise die ganze Familie mitbeeinträchtigt. Wir haben im Rohschnitt lange darüber diskutiert, ob dieses Arschloch zu hart ist oder nicht. Ich bin der Meinung, dass es richtig war, den Ausdruck drin zu lassen, denn ich spüre, dass Chris’ Bruder diesen Kraftausdruck verwendet, weil er Chris eben gerne hatte und ihn vermisst.
Hat dieser Film Sie persönlich verändert?
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat sicher Spuren bei mir hinterlassen. Ich tauchte in eine Welt ein, die mir vollkommen unbekannt war. Das Leben war für mich vorher noch viel klarer, es existierten einfach «the bad guys and the good guys». Doch dann habe ich angefangen, mich mit dem Thema und den Personen näher auseinander zu setzen und sie kennenzulernen. Obwohl ich überhaut nicht einverstanden bin mit dem Lebenskonzept eines Söldners, gibt es doch auch Gründe, weshalb jemand das macht – ich darf das ja fast nicht sagen – aber ich denke, dass sie zum Teil einfach extrem jung sind und dort hingegangen sind aus Abenteuerlust. Und dann haben sie innerhalb von einem halben Jahr ihr ganzes Leben zur Sau gemacht. Obwohl sie zweifellos sehr schlimme Sachen gemacht haben, finde ich, dass es zu einfach wäre, sie nur zu verurteilen. Ich glaube, dass es noch manchen jungen Mann gibt, der in eine ähnliche Situation geraten könnte – und der so sein ganzes Leben zerstört – weil er danach unter Alpträumen leidet, sich irgendwann suizidiert oder aber von Krieg zu Krieg weiterzieht. Denn: Diese jungen Männer haben zu viel gesehen – es gibt für sie kein Zurück in die normale Welt.
Hat ihr Film so etwas wie eine persönliche Message?
Am Anfang wollte ich ganz klar den Mörder von Chris finden – doch dann habe ich relativ bald gemerkt, dass dieser Umstand gar nicht so relevant ist. Ich realisierte, dass eine andere Frage immer wichtiger wurde: Was macht der Krieg mit den Menschen? Wieso wiederholt sich das immer wieder? In Kroatien, Serbien, Bosnien, überall wächst der Nationalismus wieder extrem. Aber nicht nur in den ehemaligen Jugoslawienländern, auch in Deutschland oder Polen. Wieso lernen wir nichts aus dem, was im letzten Jahrhundert passiert ist? Wieso sind wir Menschen so unglaublich brutal? – Ich habe keine Antworten auf all diese Fragen gefunden. Aber es ist mir immer wichtiger geworden, einen Anti-Kriegsfilm zu realisieren – um eben zu zeigen, dass hinter einer abstrakten kurzen Zeitungsnotiz ganze Schicksale stehen, ganze Familien, die in Mitleidenschaft gezogen worden sind.
Die jahrelange Arbeit an Ihrem Projekt hat sich gelohnt, Sie sind mit «Chris The Swiss» sogar nach Cannes eingeladen worden. Was bedeutet dieser Erfolg für Sie?
Die Linie zwischen Erfolg und Nicht-Erfolg ist extrem dünn. Es braucht viele Zufälle, aber auch Leute, die an einen Film glauben, die ihn pushen. Es gibt viele gute Filme, die nie Beachtung finden. Mit Erfolg kann man darum nie rechnen. Als Filmemacherin strebe ich persönlich wenig nach Erfolg und Ehre. Viel wichtiger ist mir, dass möglichst viele meinen Film sehen können, was bei Arthouse-Filmen in der Regel ja eher schwierig ist. Darum hilft es natürlich, wenn man Erfolg hat; weil der Film dann in mehr Kinos gezeigt wird. Von einem so wichtigen Festival wie Cannes ausgewählt zu werden, hat unserem Film aber auch politische Kraft verliehen. Ich habe den Film soeben am Festival in Kroatien vorführen dürfen – ohne Cannes im Vorfeld wäre das bei den aktuellen politischen Verhältnissen Kroatiens wohl nie möglich gewesen.