Amanda Nell Eu, Absolventin der London Film School, erforscht in ihrem ersten Spielfilm «Tiger Stripes» die weibliche Identität und den Körper während der Pubertät. Als erste malaysische Regisseurin, die in Cannes ausgewählt wurde, gewann sie für diesen Film den Grossen Preis der Semaine de la Critique 2023. In der Schweiz feierte ihr Film seine Premiere am Neuchâtel International Fantastic Film Festival und gewann auch dort den Hauptpreis. arttv.ch hat die Regisseurin am NIFFF getroffen.
Interview Amanda Nell Eu | Tiger Stripes
«Die Pubertät ist an sich selber schon ein bisschen «Body Horror», vor allem, wenn man nicht versteht, was mit einem passiert.»
Tiger Stripes | Synopsis
Die 12-jährige Zaffan lebt in einer kleinen ländlichen Gemeinde in Malaysia. Mitten in der Pubertät bemerkt sie, dass sich ihr Körper in beunruhigender Geschwindigkeit verändert. Ihre Freundinnen wenden sich von ihr ab, als ein kollektiver hysterischer Anfall die Schule heimsucht. Angst macht sich breit und ein Arzt greift ein, um den Dämon, der die Mädchen heimsucht, zu vertreiben. Wie ein Tiger, der bedrängt und aus seinem Lebensraum verdrängt wird, beschliesst Zaffan, ihre wahre Natur, ihre Wut, ihren Zorn und ihre Schönheit zu enthüllen.
Mit Amanda Nell Eu sprach Lliana Doudot
Ihr Film «Tiger Stripes» gewann den Grossen Preis der Semaine de la Critique 2023 in Cannes und wurde nun auch für den internationalen Wettbewerb des Neuchâtel International Fantastic Film Festival 2023 ausgewählt. Das NIFFF interessiert sich speziell für den fantastischen Film. Wie ist Ihre Beziehung zu diesem besonderen Genre?
Durch das fantastische Genre habe ich das Kino für mich entdeckt. Ich habe mich als Teenager in Horrorfilme verliebt, als ich mir Kultfilme in Schwarz-Weiss ansah und mich für alles interessierte, was mit dem Horrorgenre zu tun hatte. Als ich älter wurde, wurde mir klar, dass ich selbst Regisseurin werden und Filme machen wollte. Es ist also eine Rückkehr zu dem, was ich als Teenager liebe. In meinen Filmen spiele ich generell viel mit den Genres.
«Tiger Stripes» handelt von der Pubertät, der Menstruation und den körperlichen Veränderungen, die in der Adoleszenz auftreten. Warum war es Ihnen wichtig, das Thema Pubertät bei Mädchen in einen Film zu zeigen, der sich dem Genre des «Body Horror» (ein Untergenre des Horrors, das verstörende Veränderungen des menschlichen Körpers darstellt) bedient?
Die Pubertät ist an sich selber schon ein bisschen «Body Horror», vor allem, wenn man nicht weiss, was mit dem eigenen Körper passiert. Es kann ziemlich beängstigend sein, wenn man die Veränderungen, die in unserem Körper vor sich gehen, nicht versteht. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, dass man gerade während der Adoleszenz viele körperliche Unsicherheiten entwickelt. Was meine eigenen Erfahrungen in dieser Zeit betrifft, so gab es Körperteile von mir, auf die ich mit Hass reagierte. Ich wollte nicht mehr, dass sie existieren. Als ich mit dem Schreiben des Drehbuches begann, waren die Erfahrung in meiner Teenagerzeit also der Ausgangspunkt für den Film.
War es für Sie als malaysische Regisseurin heikel, das Thema Pubertät anzugehen? Ist es doch durch kulturelle und religiöse Ansichten behaftet?
Der Film hat überhaupt nicht mit Religion zu tun. Er handelt von den Hindernissen, mit denen ein junges Mädchen während der Pubertät in Malaysia konfrontiert wird. Diese Gefühle die auch andere Teenager auf der ganzen Welt kennen. Diese Mauern der Scham, der Unsicherheit und des Selbsthasses zu durchbrechen, ist eine universelle Erfahrung. Ich denke, dass die Menschen nicht so empfindlich sein sollten, wenn über den Körper von Frauen oder Mädchen gesprochen wird. Wir sollten mehr über unsere weiblichen Körper diskutieren und uns nicht dafür schämen. Eine Damenbinde mit Blut auf einem Bildschirm zu zeigen, sollte nichts Besonderes sein. Als Frauen sehen wir Menstruationsblut eine Woche im Monat. Das ist genau so normal wie ein Fleck auf der Kleidung oder dem Bett. Es ist diese Angst und das Unbehagen, das ein Problem darstellt. Dabei ist es doch ein natürlicher Vorgang.
Warum haben Sie sich entschieden, einen Tiger mit glühenden Augen zu zeigen, um die Metapher der Pubertät zu verkörpern?
Ich habe mich schon immer sehr für die Folklore in Malaysia und Südostasien interessiert, und ich mag es wirklich, dass diese Geschichten durch mündliches Erzählen weitergegeben werden. «Tiger Stripes» ist also in gewisser Weise meine eigene Version der Folklore meiner Heimatregion. Es ist, als würde man diese Geschichte von seiner Grossmutter hören, nachdem sie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ich bin wie eine Oma, die ihre Geschichte auf eine grosse Leinwand bringt, damit die Menschen dieses neue Volksmärchen vielleicht noch weiter verbreiten können! Was den Tiger betrifft, so ist er eines das Nationaltier Malaysias und ein wildes und wunderschönes Geschöpf. Wenn Sie einem Tiger Auge in Auge gegenüberstehen, werden Sie grosse Angst haben! Daher dachte ich, dass er die perfekte Verkörperung für diesen jungen Teenager ist.
In «Tiger Stripes» sehen wir die Welt durch die Augen der Teenagermädchen, und es werden vertikale TikTok-Videos, die mit Smartphones aufgenommen wurden, in den Film eingefügt. Warum haben Sie sich für dieses unkonventionell Format entschieden?
Es war mir sehr wichtig, die Welt der Mädchen zu zeigen und sie aus ihrer Perspektive zu sehen. Wir können die Tatsache nicht ignorieren, dass die Jugendlichen von heute mit diesem hochformatigen Bildschirm aufwachsen. Sie lernen alles durch ihn, seien es neue Informationen oder Kontakte zu anderen, und sie sehen auch, wie sie selbst durch ihn aussehen, damit aufwachsen und sich verändern. Es ist offensichtlich, dass dieser vertikale Bildschirm die Perspektive der heutigen Jugend ist. Als wir den Film drehten, wurden am Set einige Sequenzen von den Mädchen selbst aufgenommen, so dass wir wirklich den Blick dieser jungen Heranwachsenden spüren und in den Film einfliessen lassen konnten.
In ihren Rollen, die sowohl sehr physisch als auch psychologisch sind, ist die Leistung der drei jungen Darstellerinnen wirklich bemerkenswert. Wie haben Sie Ihre Protagonistinnen geleitet und wie kam es zur Zusammenarbeit?
Ja, die drei sind grossartig, ich liebe sie und bin sehr stolz auf ihre Leistungen. Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass sie Tigermädchen sind! Nicht nur die drei Hauptdarstellerinnen, sondern alle beteiligten Mädchen. Wir haben an vielen Theaterworkshops teilgenommen. Dadurch ist ein Raum des Vertrauens entstanden, in dem sie sich sicher fühlten, um sich frei auszudrücken. Interessanterweise erzählt der Film die Geschichte von Zaffan, die einen Weg findet, sich auszudrücken, und das haben wir parallel auch in den Workshops gemacht. Mit dem Casting haben wir kurz vor der Covid-19-Pandemie begonnen. Die Mädchen waren damals 12 oder 13 Jahre alt. Wegen der Pandemie mussten wir die Dreharbeiten um zwei Jahre verschieben. In der Zwischenzeit sind sie also erwachsen geworden und haben ihre eigene Version von dem, was im Film gezeigt wird, erlebt. Eigentlich war es ein Segen, dass wir die Dreharbeiten verschieben mussten und die Mädchen so die Figuren und das, was sie in der Geschichte erleben, verstehen konnten.
«Tiger Stripes» ist Ihr erster Spielfilm. Sie sind die erste malaysische Regisseurin, die für die Teilnahme in Cannes ausgewählt wurde, und Sie haben den Grossen Preis der Semaine de la Critique gewonnen. Wie fühlen Sie sich angesichts des Hypes um Ihren Film?
Es ist unglaublich. Es ist noch besser, als ich erwartet hatte. Ursprünglich hatte ich keine Erwartungen, ich war einfach nur sehr glücklich, einen Film zu beenden. Und ja, jetzt ist die Resonanz auf «Tiger Stripes» sehr gut. Ich bin äusserst dankbar, dass ich meinen Film in vielen Teilen der Welt zeigen konnte und kann. Es ist schön zu erleben, dass das Publikum mein Werk so positiv aufgenommen hat, und die gleichen Dinge fühlt wie das, was der Film zu sagen versucht. Es ist letztlich halt doch eine sehr universelle Geschichte, die «Tiger Stripes» erzählt.