Während des Wirtschaftsbooms in den 1960er-Jahren wird im wohlhabenden Norden Italiens das höchste Gebäude Europas gebaut. Am anderen Ende des Landes besuchen Höhlenforscher die kalabrische Hochebene im unberührten Hinterland. Die Höhlenexpedition der besonderen Art stellt dabei einen Gegenentwurf dar. Eine Reise in die Tiefe, die Abgründe, das Entgegengesetzte zum oberirdisch umgreifenden Glauben an ewigen Wachstum.
Il buco
Wie schon in «Le quattro volte» (2010) erzählen Michelangelo Frammartinos Bilder mehr als tausend Worte und hinterlassen tiefe Eindrücke.
Il buco | Synopsis
Im Jahr 1961, als der weltweite Wirtschaftsboom in Italien in vollem Gange war, widmeten sich Giulio Gècchele und seine junge Höhlenforschungsgruppe aus dem Piemont einem völlig freien Akt. Entgegen dem Trend des unaufhaltsamen Aufstiegs in den Himmel begannen sie eine speläologische Expedition, die damit endete, dass sie in eine Nische, ein Loch, einen Riss in der Erde kletterten und bis in eine Tiefe von etwa 700 Metern unter der Erde hinabgingen. Am Fusse der italienischen Halbinsel entdeckten sie die zweittiefste Höhle der Welt, den Bifurto Abyss. Dieser Rekord war sogar den Forschern selbst unbekannt. In denselben Monaten wurde der monumentale Pirelli-Wolkenkratzer, ein schwindelerregendes Beispiel zeitgenössischer Architektur, fertig gestellt. Das Gebäude wurde in den Nachrichten und in den Medien breitgetreten und wurde schnell zu einem auffälligen Symbol dafür, dass Italien das höchste vertikale Ziel erreicht hatte. Die Entdeckung der Höhlenforscher wurde jedoch nicht publik gemacht und blieb so obskur wie die dunkle Unterwelt, in der sie fertiggestellt wurde.
Il buco | Stimmen
«‹Il Buco› ist das genaue Gegenteil einer Bergbesteigung: Es ist eher eine Mondmission – und doch auch das Gegenteil davon: eine Reise ins Innere, in eine dunkle, unerkennbare Welt unter unseren Füssen, die durch ein seltsames Loch zugänglich ist.» – Peter Bradshaw, The Guardian | «Die grösste Kunst in ‹Il Buco› liegt im Licht, das er erzeugt; das unheimliche, grelle Leuchten auf der zerklüfteten Oberfläche der Höhle hinterlässt eine eindringliche Erinnerung, einen malerischen Eindruck, der die Grossartigkeit der Idee des Films übertrifft.» – Richard Brody, The New Yorker
Rezension
von Geri Krebs
Der 1968 in Milano geborene Michelangelo Frammartino ist einer jener Regisseure, die seit zwanzig Jahren die – heute gerade bei jungen Cineast:innen so beliebte – totale Verwischung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem betreibt. Und er ist einer, dessen Filme man vor einigen Jahren wohl mit dem Etikett «Radical Cinema» versehen hätte. Und er hat damit beachtliche Festivalerfolge: Locarno, Cannes, Venedig – das sind die Stationen seines gerade mal drei lange Kinofilme umfassenden schmalen Oeuvres. Gemeinsam ist den drei Filmen, dass sie alle in dem ländlichen Kalabrien angesiedelt sind, aus dem seine Eltern einst in den 1960er-Jahren ins prosperierende Norditalien emigrierten. Ging es im 2003 entstandenen «Il dono» um einen Greis und ein behindertes Mädchen in einem vom Aussterben bedrohten Dorf, so stand 2010 in «Le quattro volte» ein todkranker, uralter Ziegenhirte im Zentrum. In Bildern von ätherischer Schönheit war in beiden Filmen die Natur die eigentliche Protagonistin – und die Dialogpassagen hätten wohl auf einem A4 Blatt Platz gefunden. Das gilt nun auch für «Il buco».
687 Meter Tief
Der Film ist ein direktes Fortsetzungsprojekt von «Le quattro volte», denn das titelgebende «Loch» und seine Geschichte entdeckte Frammartino 2010 in der Gegend während der Endphase der Dreharbeiten zu jenem Film. Die Geschichte ist die des Bifurto-Abgrund am Monte Pollino, eine erst 1961 von Höhlenforscher:innen aus dem Piemont entdeckte und darauf nach und nach kartografierte Höhle, die mit 687 Metern Tiefe weltweit einzigartig ist. Sechzig Jahre nach dieser Entdeckung lässt Frammartino nun den Prozess der Erforschung von heutigen jungen Höhlenforscher:innen minutiös nachspielen – und zwar so, dass man sich wiederholt fragen muss: Ist das ein Dokumentarfilm oder ein Spielfilm?
Das höchste Gebäude Italiens
Doch das ist, wie erwähnt, bei Frammartino Programm. Und verglichen mit den beiden Vorgängerfilmen ist «Il buco» geradezu ein Action-Film. So lässt er es dieses Mal nicht allein beim Betrachten des Lebens auf und unter der Erdoberfläche bewenden, sondern er kontrastiert diese Aufnahmen, die vom berühmten Tessiner Kameramann Renato Berta akribisch ins Bild gesetzt werden, wiederholt mit Archivmaterial über den Bau des Pirelli-Hochauses in Milano. Mit 132 Metern Höhe war es damals das höchste Gebäude Italiens und sein Bau fiel genau in jene Zeit, in der am anderen Ende Italiens die Männer im tiefsten Kalabrien in bis dahin unbekannten Tiefen forschten.
Fazit: «Il buco» verlangt einem einiges an Geduld ab, aber er lohnt sich schon allein wegen der Art und Weise, wie Kameramann Renato Berta sein Können beweist. In den Szenen aus der Höhle schafft er es, die Abwesenheit des Lichts so darzustellen, dass die Dunkelheit Form und Tiefe bekommt und «Il buco» zu einem ästhetischen Ereignis wird. Unbedingt im Kino anschauen!