Mit wenig Worten und dafür umso grossartigeren Bildern entwirft Carmen Jaquier in ihrem ersten Langfilm «Foudre» ein Mysterienspiel um die Emanzipation einer jungen Frau in einer versteinerten Gesellschaft. Das eher ungewöhnliche Setting in einem Walliser Bergdorf um das Jahr 1900 ist auf den Fund von Tagebüchern ihrer Grossmutter zurückzuführen. Im Interview verrät sie arttv, woher weitere Inspirationen kamen und wieso sie beim Cast auf ein noch unbekanntes Gesicht setzte.
FOUDRE
Eine doppelte Neuentdeckung: Die Regisseurin Carmen Jaquier und ihre Hauptdarstellerin Lilith Grasmug
Synopsis | Foudre
Sommer in einem Schweizer Dorf um 1900. Als die 17-jährige Novizin Elisabeth vom plötzlichen Tod ihrer ältesten Schwester Innocente erfährt, sieht sie sich gezwungen, auf den Hof ihrer Familie zurückzukehren. Schon bei ihrer Ankunft werden die Todesumstände ihrer Schwester von einem seltsamen Schweigen umhüllt. Doch Elisabeth ahnt, dass mehr dahinterstecken muss. Zwischen knochenharter Feldarbeit, dem christlich-konservativen Elternhaus und den verstohlenen Blicken der männlichen Dorfjugend taucht sie immer tiefer in die Geheimnisse von Innocente ein. Die hochtalentierte Westschweizer Regisseurin Carmen Jaquier erforscht in eindrücklich komponierten Bildern weibliche Emanzipation inmitten erdrückender Gesellschaftsnormen.
Regie | Foudre
Die Schweizer Regisseurin *Carmen Jaquie*r, 985 in Genf geboren, studierte Grafikdesign, bevor sie ihren ersten Kurzfilm BOUFFE MOI! (2004) drehte und an der Ecole Cantonale d’Art de Lausanne das Studium aufnahm. Ihr Abschlussfilm LE TOMBEAU DES FILLES (2011) erhielt den Pardino d’argento am Locarno Film Festival. Danach beschäftigte sie sich im Rahmen des Kollektivs Aamen mit Bild und Schnitt. Der Kollektivfilm HEIMATLAND (2015) und ihr Kurzfilm LA RIVIÈRE SOUS LA LANGUE (2015) liefen in der Folge ebenfalls in Locarno. FOUDRE ist ihr erster abendfüllender Spielfilm und wurde in Toronto uraufgeführt.
Filmografie (Auswahl): Foudre (2022) | To our stars (Kurzfilm, 2016) | La rivière sous la langue (Kurzfilm, 2015) | Heimatland (Kollektivfilm, 2015) | Rome à la troisième heure de la nuit (Kurzfilm, 2014) | Le bal des sirènes (Kurzfilm, 2013) | Les vagues (Kurzfilm, 2012) | Le tombeau des filles (Kurzfilm, 2011) | Bouffe moi! (Kurzfilm, 2004)
Ein Interview mit Carmen Jaquier
von Geri Krebs
Ihr Spielfilmerstling handelt von einer Frau, die in einer Zeit vor über hundert Jahren lebt und versucht, sich aus den damaligen Zwängen zu befreien. Was war dabei ihr Ausgangspunkt?
Seit zehn Jahren, seit ich meine Filmausbildung abgeschlossen hatte, gab es bei mir den Wunsch, einmal einen langen Spielfilm zu realisieren über vier Jugendliche – Jungen und Mädchen – die gemeinsam die Freundschaft und die Liebe entdecken. In welcher Form und vor welchem Hintergrund das spielen sollte, war mir damals aber noch nicht klar. Einige Zeit später fand ich dann im Nachlass meiner verstorbenen Urgrossmutter Aufzeichnungen, die mich faszinierten und elektrisierten. Meine Urgrossmutter war eine sehr fromme, ja, spirituelle Frau, die eine Art Tagebuch hatte, in welchem sie ihre Gespräche niederschrieb, die sie mit Gott führte.
Gab es in diesen Aufzeichnungen auch den sexuellen Teil, der in «Foudre» eine wichtige Rolle spielt?
Nein, den gab es nicht. Aber in jener Zeit wurde Sexualität absolut tabuisiert und totgeschwiegen. Ich möchte aber hier noch anfügen, dass es nicht nur diese Aufzeichnungen aus meiner eigenen Familie waren, die mich zu «Foudre» inspirierten. Etwas später, als ich für das Drehbuch mit den Recherchen über diese Zeit begann, stiess ich auf zwei Bücher. Das eine ist «Theoda», ein Roman von Corinna Bille (1912- 1979), der 1944 erschien und der, basierend auf einem realen Fall die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe bis zu ihrem bitteren Ende erzählt. Das zweite Buch war «La poudre de sourire», die Aufzeichnungen der Weberin Marie Métrailler (1901 – 1979) aus dem Dorf Evolène.
Für mich ist «Foudre» ein Film, der sich letztlich um die Verbindung von Spiritualität und Sexualität dreht, gipfelnd in dem Schlüsselsatz, den Elisabeth einmal zu ihrem ersten Lover sagt: Wenn du in meinen Augen Gott siehst, darfst du mich küssen …
Ja, das ist der eine Teil des Films. Andererseits wollte ich mit den Fotos und den Postkarten aus der Zeit um 1900, die man zu Beginn des Films sieht, den Bogen schlagen zur harten Realität und der zermürbenden Arbeit, welcher die Frauen auf dem Land zu jener Zeit ausgesetzt waren.
Der Film wird zu einem grossen Teil von Hauptdarstellerin Lilith Grasmug getragen. Wie haben Sie diese wunderbare Schauspielerin gefunden?
Mir war wichtig, dass es ein Film mit jungen Leuten und neuen, unbekannten Gesichtern wird. Das Casting zusammen mit meiner Castingdirektorin Mina Prader dauerte fast zwei Jahre und wir hatten immer noch keine Hauptdarstellerin. In einer zweiten Runde haben wird dann nach jungen Schauspielerinnen gesucht, die schon einmal in einem – oder höchstens zwei Filmen gespielt hatten. So sind wir auf Lilith Grasmug gestossen, die 2018 in dem mystischen Thriller «Sophia Antipolis» des französischen Regisseurs Virgil Vernier mitspielte. Ein Film, der in jenem Jahr in San Sebastian in einer Nebensektion lief. In jenem Film musste sie viel laufen und die Art und Weise, wie sie dort lief, das hatte für mich etwas Schillerndes, ja Leuchtendes. Als wir uns dann zum ersten Mal in der Realität und nicht nur auf dem Monitor begegneten, war ich von ihrer Ausstrahlung sofort fasziniert. Ich wusste: Das ist sie.
Mit Sabine Timoteo haben Sie andererseits aber doch auch eine sehr bekannte Schauspielerin im Film eingesetzt …
Ja, aber Sabine spielt als Mutter von Elisabeth und Innocence eine kleine Rolle. Aber es stimmt, ich dachte bereits beim Schreiben des Drehbuchs an sie und, dass sie die diese Mutterfigur der beiden verkörpern sollte.
War es schwierig für Sie, Sabine Timoteo zu gewinnen?
Nein, überhaupt nicht. Sabine ist eine sehr unkomplizierte Person. Ich hatte das Glück, dass sie, nachdem wir ihr das Drehbuch geschickt hatten, rasch zusagte. Auf dem Set war sie dann eine ungeheuer fordernde Darstellerin. Sie ist sehr genau und rigoros in ihrer Arbeit und ich konnte so von ihrer Erfahrung profitieren.
«Foudre» ist letztlich ein Film, der mit wenig Dialogen, dafür viel mit grossartigen Bildern von einer verbotenen Liebe in einer archaischen Bergwelt erzählt. Vor 37 Jahren hat Fredi Murer mit «Höhenfeuer» auf diesem künstlerischen Terrain ein Meisterwerk geschaffen. War jener Film für Sie ein Orientierungspunkt?
Es freut mich natürlich, dass Sie diese Assoziation haben, aber ich will bei «Foudre» nicht von einem Vergleich mit jenem unerreichbaren Werk sprechen, das für mich auch etwas vom Grössten ist, was es im Schweizer Kino gibt.
Sie sind die Lebenspartnerin von Jan Gassmann – und nun läuft nicht nur «Foudre», sondern auch sein neuer Film «99 Moons» am ZFF als Schweizer Premiere. Wie erleben Sie das?
Es ist für mich und für Jan ein grosser Moment, dass wir nun am ZFF unsere beiden Filme mit dem Schweizer Publikum teilen können. Nach all diesen Jahren voller Arbeit: das ist eine sehr starke Erfahrung.