Ins Kino zu gehen, ist mit der Hoffnung verbunden, etwas Spannendes, Ungewöhnliches, Spektakuläres oder auch Liebliches zu erleben. Man möchte vom eigenen Leben für kurze Zeit Abstand nehmen und in eine andere, faszinierende Welt eintauchen – in einen anderen Zustand versetzt werden. Diese Erwartung erfüllt BIRD voll und ganz. Die 63-jährige Regisseurin Andrea Arnold folgt mit BIRD ihrer eigenen Jugend.
BIRD
BIRD | SYNOPSIS
Bailey lebt mit ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) in einem besetzten Haus in Kent, nahe London. Anstatt sich um Bailey zu kümmern, konzentriert sich Bug, wenn er nicht gerade zugekokst die Nächte durchfeiert, lieber auf seine neueste Geschäftsidee: Er will aus dem Sekret einer speziellen südamerikanischen Kröte eine halluzinogene Superdroge entwickeln und teuer verkaufen. Nachdem sie im Streit mal wieder von daheim abgehauen ist, trifft Bailey auf den sonderbaren Bird (Franz Rogowski). Er kommt mit Purzelbäumen und im Faltenrock wie aus dem Nichts auf sie zu. In einer Welt, in der sich niemand um sie kümmert, wird Bird zu Baileys engstem Vertrauten. Aber ist Bird wirklich der, als der er sich ausgibt?
BIRD | WEITERE STIMMEN
«Andrea Arnold, Gewinnerin von drei Jury-Preisen, ist wieder in Cannes. In diesem Jahr stellt sie ihren neuesten Film BIRD vor und lädt uns in ihre Heimat Kent ein, um Bailey zu treffen, einen jungen Teenager, der in einer dysfunktionalen Familie lebt und dessen Entdeckung der Welt von der Poesie und der Gewalt seiner Umgebung bestimmt wird. Andrea Arnold flirtet zum ersten Mal mit der Welt der Fantasy und ruft sowohl Ken Loach als auch das Tierreich herbei, um uns mit Humor und Gewalt in ihre eigene Welt zu entführen. Die Leistung der Schauspieler:innen ist wieder einmal verblüffend und die Brutalität der Aussage wird immer wieder durch eine sehr bewegliche Kamera und prächtige Dialoge nuanciert.» – Mathieu Vuillerme, clickcinema.ch | «Die britische Regisseurin bleibt ihrem naturalistischen Stil treu und gräbt sich weiter in die vergessenen sozialen Klassen ein, die sie so gut einzufangen weiss.» – Le Monde | «Die junge Bailey überlebt die soziale Gewalt dank ihrer Vorstellungskraft … und einem seltsamen Schutzengel, Bird, gespielt von dem grossartigen Franz Rogowski. Ein Film voller Bewegung und roher Poesie.» – Télérama | «Der Film hätte alles für ein gutes Sozio-Drama, leider eben auch einiges mehr, was nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.» – Outnow
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Das Familiendrama BIRD spielt im ländlichen Norden von Kent in der untersten gesellschaftlichen Schicht. Dort, wo Trostlosigkeit, Gewalt und Armut die Menschen prägen. In der Hafenstadt Gravesend lebt die 12-jährige Bailey zusammen mit ihrem Halbbruder Hunter in einem verwahrlosten Haus. Ebenfalls Teil der Schicksalsgemeinschaft ist ihr arbeitsloser, drogenabhängiger Vater Bug, der nur 16 Jahre älter ist als Bailey. Die Wohnung ist heruntergekommen, total versprayt und mit lauter Heavy-Metal-Musik erfüllt.
Bailey trotzt der Trostlosigkeit
Das Augenmerk ist voll auf Bailey gerichtet, die trotz aller Widerwärtigkeiten einen klaren Blick auf die Umstände hat, in denen sie gezwungenermassen lebt. Die Zeiten sind wild: Ihr am ganzen Körper tätowierter Vater will seine jüngste Bekanntschaft heiraten. Mit einer speziellen Kröte, die einen halluzinogenen Schleim absondern soll, hofft er, viel Geld zu machen. Mitunter schlägt er aber vorerst als Mitglied einer Bürgerwehr Leute zusammen. Bailey, die etwas Bubenhaftes an sich hat, verkörpert in BIRD die Hoffnung. Sie ist selbstbewusst, geht ihren eigenen Weg, liebt die Natur und filmt mir ihrem Handy Seemöwen, Krähen und alles, was ihr auffällt. Während sie durch die Moore streift, trifft sie eines Morgens unverhofft auf einen kauzigen Vagabunden (Franz Rogowski), der mit einem Rock bekleidet um sie herumtänzelt. Er ist wie von einem anderen Stern. Bird ist sein Name und er ist auf der Suche nach seinem Vater, mit dem er einst in der Gegend gewohnt hat. Allmählich freunden sich Bailey und Bird an. Er ist aus dem Nichts zur Stelle, wenn sein weiblicher Schützling Hilfe braucht. Er hilft etwa, wenn Bailey sich um ihre Mutter, die mit einem Schlägertypen zusammen ist, und ihre drei jüngeren Halbgeschwister kümmern muss. Bird hält sich oft auf dem Flachdach eines gegenüberliegenden Hochhauses auf. Bailey kann ihn immer sehen – und er behält sie im Auge. Bird, der die Fähigkeit hat, sich in einen grossen gefiederten Vogel zu verwandeln, bringt eine unerwartete Ebene in Regisseurin Andrea Arnolds Drama, die versöhnlich, ja geradezu liebevoll ist. Bird symbolisiert die Kraft der Menschlichkeit. Aber existiert er wirklich oder ist er pure Einbildung?
Temporeicher Erzählstil
Die Figur von Bailey lehnt sich eng an die britische Regisseurin Andrea Arnold (FISH TANK, AMERICAN HONEY) an. Die 63-Jährige wuchs selbst in einer Sozialsiedlung in Kent auf, hatte drei jüngere Geschwister und eine sehr junge Mutter. Sie verbrachte viel Zeit auf der Strasse und zog sich sozusagen selbst auf. Der irische Kameramann Robbie Ryan setzt lediglich die Handkamera ein, die sich wie ein Auge auf die oft schnell geschnittene Geschichte drückt. Die vielschichtige Milieubeschreibung ist akkurat inszeniert, die jungen Akteur:innen spielen ihre grossen interpretatorischen Freiheiten voll aus und wirken dadurch sehr authentisch.
Fazit: BIRD ist heftig, wild und rasant: eine Höllenfahrt durch eine nicht alltägliche Milieu-Geschichte. Sehr zu empfehlen!