Der Film blickt zurück auf «die Mutter» aller europäischen Schwulenorganisationen, deren Aufstieg und deren Niedergang. «Der Kreis» begeisterte im voll besetzten Kino das Berlinale Premierenpublikum. Die Mischung aus Dok- und Spielfilm ist dem Schweizer Regisseur vollumfänglich gelungen. Mit dem nötigen Feingefühl, aber auch mit Sinn für stimmungsvolle Bilder, Rhythmus und Dramaturgie hat Haupt ein genauso wert- wie liebevolles cineastisches Zeitdokument geschaffen.
Berlinale 2014 | Der Kreis | Begeistertes Publikum
Aus Schweizer Sicht ist Stefan Haupts Film «Der Kreis» das triumphale Ereignis der Berlinale 2014.
Stefan Haupt zum Film:
«In Russland wird ein Anti-Homosexuellen-Gesetz unterzeichnet. In Uganda droht Homosexuellen lebenslängliche Gefängnishaft. In den USA wird von Suizidwellen unter schwulen Jugendlichen berichtet. In Belgrad kommt es nach einer Gay-Parade zu schweren Ausschreitungen. Und in Paris, der «Stadt der Liebe», endet eine Demonstration gegen die Homo-Ehe in Strassenschlachten: selbst im sogenannt fortschrittlichen Westeuropa ist der Weg von einem allfälligen Tolerieren hin zur vorbehaltlosen Akzeptanz von Homosexuellen auch heute mitunter noch sehr weit. DER KREIS handelt somit, trotz seiner zeitlichen Distanz und örtlichen Konkretheit, von einem globalen, nach wie vor hochaktuellen Thema. Der Film wirft einen wachen Blick auf einen historisch und gesellschaftspolitisch relevanten Zeitabschnitt im Kampf der Schwulen um Gleichberechtigung und Emanzipation. Ein Kampf, der noch längst nicht zu Ende ist. Denn ich weiss noch genau, was es alles an Fragen, Gefühlen und Gedanken in mir ausgelöst hat, als sich vor Jahren mein Bruder mir gegenüber geoutet hatte. Über ihn habe ich später Röbi Rapp und Ernst Ostertag kennengelernt. Dass sich hinter ihrem Leben, und genauso hinter den Mauern unserer Stadt, eine so aufwühlende Geschichte verbirgt – von der Blütezeit des KREISES über die lange verschwiegene Repression bis hin zur ersten amtlich registrierten Partnerschaft der Schweiz, die sie 2003 in Zürich feiern konnten –, davon wusste ich lange Zeit überhaupt nichts, obwohl ich seit meiner Kindheit hier lebe. Und so ist DER KREIS auch eine wichtige, aber unbekannte Geschichte meiner Stadt, die ich mit diesem Film erzählen möchte. Ihre fundierte und reichhaltige Website zu Schwulen in der Schweiz und ihrer Geschichte (www.schwulengeschichte.ch) haben Ernst und Röbi überschrieben mit: «Es geht um Liebe». Dieser kurze Satz wurde mir zum eigentlichen Leitfaden des Films. Es geht nicht um verschiedene Schubladen und fein säuberlich getrennte Welten von «Normalen» und «Abnormalen», sondern um diese gemeinsame Suche nach Liebe, nach Glück und Erfüllung. Eine Suche, die sehr verschiedene Wege kennt.»
Synopsis
Zürich, Mitte der 50er-Jahre: Der junge, schüchterne Lehrer Ernst Ostertag wird Mitglied der Schweizer Schwulenorganisation DER KREIS. Er lernt dort den Travestie-Star Röbi Rapp kennen – und verliebt sich unsterblich in ihn. Röbi und Ernst erleben die Blütezeit und Zerschlagung der Organisation, die europaweit als Wegbereiter der schwulen Emanzipation gilt. Ernst muss sich dabei zwischen seiner bürgerlichen Existenz und dem Bekenntnis zur Homosexualität entscheiden, für Röbi geht es um die erste seriöse Liebesbeziehung. Eine Liebesbeziehung, die ein ganzes Leben lang halten wird. Der Film blickt von der Gegenwart zurück in jene Vergangenheit, in der «die Mutter» der europäischen Homosexuellenorganisationen ihre Glanzzeit erlebt und dann langsam niedergeht. Während die Repressionen gegenüber Schwulen in Zürich immer massiver werden, kämpfen zwei junge, sehr unterschiedliche Männer um ihre Liebe und – zusammen mit ihren Freunden – um die Rechte der Schwulen.
Historischer Hintergrund
DER KREIS, Anfang der Dreissigerjahre gegründet, ging aus der frühen Schwulenbewegung des 20. Jahrhunderts hervor und stand für ein idealisiertes schwules Selbstverständnis. Diese weltweit einzige schwule «Selbsthilfeorganisation», die die Zeit der Nazi-Herrschaft in Europa überlebt hatte, wurde zum Vorbild für ähnliche Organisationen in verschiedenen Ländern Europas und sogar in den USA. Gründer des KREIS war «Rolf», ein Pseudonym für den bekannten Schauspieler Karl Meier. Dieser baute ein internationales Netzwerk auf. Sein wichtigstes Kommunikationsmittel war die Publikation DER KREIS – LE CERCLE – THE CIRCLE. Nebst Kurzgeschichten, Gedichten und Fotos publizierte er in der dreisprachigen Zeitschrift auch Artikel über die Aktivitäten von Homosexuellengruppen aus der ganzen Welt – und trug damit zum internationalen Austausch bei. Rolf stand in Kontakt mit den Schwulengruppen in den Niederlanden, in Skandinavien, Deutschland, Frankreich und den USA. Unter den Zeitschrift-Abonnenten waren viele bedeutende Persönlichkeiten, deren wahre Identität aber die meisten KREIS-Kameraden ebenso wenig kannten wie die Öffentlichkeit.
Ab 1948 betrieb DER KREIS in Zürich ein Mietlokal im Gebäude des heutigen Theaters am Neumarkt, einen Club, in dem sich die «Homophilen» trafen, den Gedankenaustausch pflegten und Bekanntschaften schlossen. Der KREIS vereinigte all jene, die für die Rechte der Homosexuellen kämpften – auf rechtlicher Ebene sowie im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich. Gleichzeitig war der Club einer der wenigen sicheren Begegnungsorte für Schwule. An den grossen, regelmässig stattfindenden Maskenbällen des KREIS nahmen in den 50er-Jahren jeweils bis zu 800 Schwule teil, die für dieses Wochenende aus ganz Europa und sogar aus Amerika angereist kamen. Ab 1959 nahm in Zürich, nicht zuletzt aufgrund mehrerer Morde im «Stricher-Milieu», die gesellschaftliche Repression zu: Die Zürcher Stadtpolizei legte Schwulenregister an und führte regelmässige Razzien durch. Homosexuelle wurden verfolgt, verhört und misshandelt.
Gleichzeitig erlebte DER KREIS auch einen internen Strukturwandel. Rolf, der Gründer und «Übervater» der Organisation, vertrat einen moderat-angepassten Kurs, suchte immer wieder den Konsens mit den Behörden – und war auch zu entsprechenden Kompromissen mit der Sittenpolizei bereit. Dies im Gegensatz zu vielen jüngeren KREIS-Mitgliedern, die ein anderes Selbstverständnis pflegten und kompromissloser dachten. Aufgrund eines 1960 durch den Stadtrat beschlossenen Tanzverbots für Männer mit Männern auf städtischem Boden verlor DER KREIS seine wesentlichste Geldquelle, die grossen Ball-Veranstaltungen. 1961 musste das KREIS-Lokal geschlossen werden. Die zusätzlichen internen Diskussionen führten schliesslich dazu, dass die Zeitschrift eingestellt und die gesamte Organisation 1967 aufgelöst wurde. Erst die Zürcher Globuskrawalle lenkten 1968 das Interesse der Öffentlichkeit von den Schwulen ab: Die Polizei hatte «andere Sorgen». Dank der wertvollen Aufbauarbeit dieser Zürcher Organisation entstanden zahlreiche Nachfolgeorganisationen im In- und Ausland, die eigene Zeitschriften publizierten.