Adolf Muschg, nach Frisch und Dürrenmatt der bedeutendste Schweizer Intellektuelle, schrieb sich in die vordersten Ränge der Literatur. Das dokumentarische Porträt von Regisseur Erich Schmid folgt Muschg nicht nur auf seinem Werdegang, sondern auch auf den Spuren seines letzten Romans «Heimkehr nach Fukushima» ins verstrahlte Japan und ins Zen-Kloster. Mit Humor und Offenheit führt Adolf Muschg mit persönlichem Kommentar durch den Film.
Adolf Muschg – der Andere
Krankheitsgewinn und Hypochondrie
Adolf Muschg wuchs bei einem streng religiös-konservativen Vater und einer schwer depressiven Mutter auf. Er war früh auf sich alleine gestellt; der Vater starb, als er 13 Jahre alt war, und die Mutter musste in die Klinik. Durch eine zufällige Äusserung seiner Tante erfuhr er den tieferen Grund, weshalb seine Mutter ein Leben lang gemütskrank war. Ihr Vater, ein zum Bahnmeister aufgestiegener Schrankenwärter, hatte sie als junges Mädchen sexuell missbraucht – mit gravierenden Spätfolgen für ihren Sohn. Ihr Zustand erlaubte es kaum mehr für Adolf dazusein. Ihre Kraft reichte nurmehr aus, um ihn zu pflegen, wenn er krank war. Dann aber umsorgte sie ihn umso mehr, als ob sie ihre Abwesenheiten kompensieren müsste. So wurden die Zeiten im Fieber Adolfs Glückstage, in denen er sich geliebt und geborgen fühlte – ein Krankheitsgewinn, wie es die Psychoanalyse nennt, der zu seiner schweren Hypochondrie führte. Daran litt Adolf Muschg derart, dass er sich mitunter gesunde Organe entfernen liess.
Nazilieder bei den Pfadfindern
Er hatte, 1934 geboren und auf den Namen Adolf getauft, einen schweren Start ins Leben. Er habe die Todesstrafe kennengelernt, sagt er, im frühen Tod seines Vaters, und den Wahnsinn, in der Depression seiner Mutter. Im Bestreben, sie zu schonen, erfüllte er als halbwaiser Musterschüler brav ihre Erwartungen, die hochgesteckt waren. In Zollikon, seinem Wohnort an Zürichs Goldküste, musste den Pfadfindern beitreten, wer es zu etwas bringen wollte. Das Pfadfinderkorps war eine Kaderschmiede mit Austrahlung über die Dorfgrenzen hinaus. Dass er dort Nazilieder mitgesungen hatte, wurde ihm erst viel später bewusst, ebenso die Bedeutung des Zolliker Pfadfinder-Schlachtrufs «Haarus!», ein Erbe, das auf die Schweizer Frontisten zurückging, die mit demselben Ruf ihr tausendjähriges Heil gesucht hatten. Entsprechend verlief Adolfs Muschgs Pfadfinder-Taufe auf den Namen «Spirit». Man steckte ihn in einen Sack, hängte ihn verkehrt herum auf und wollte seinen Kopf in einen Kessel voll Urin eintauchen. Da bekam er Platzangst und schrie: «Lass mich raus!» – Es war der Moment einer biografischen Peripetie. Er trat aus, quittierte die Mitgliedschaft und wurde ein Anderer.
Internat in Schiers
Adolf Muschg hatte nicht nur Pech im Leben. Als sein dreissig Jahre älterer Halbbruder, ein berühmter Professor in Basel und Nationalrat in Bern, nach dem Tod des gemeinsamen Vaters meinte, der Gymnasiast Adolf brauche jetzt nicht Bildung, sondern Ausbildung, etwa die eines Schneiders – da nahm ihn ein wohlwollender Nachbar auf und sorgte dafür, dass er, allerdings weit ab in den Bergen, das Evangelische Internat im graubündnerischen Schiers besuchen konnte, damals noch eine «Erziehungsanstalt». Dort jedoch litt er erneut, als Halbwaiser, und von der kranken Mutter verlassen. «Wir werden nie so schlecht gelesen wie in der Kindheit. Im Internat wurde über alles, was für junge Menschen wichtig war, geschwiegen – oder zensiert. Disziplin und nochmals Disziplin, Zurückhaltung und Unterdrückung meiner wahren Bedürfnisse, und ich durfte mich gar nicht unglücklich fühlen, es durfte gar nicht wahr sein, dass ich mich im Stich gelassen fühlte, sondern ich hatte zu berichten, wie gut es mir in Schiers ginge und wie wunderbar mir das hier erzählte Christentum bekomme und welch gute Freunde ich habe – es war alles nicht einmal die halbe Wahrheit.»
Aufbruchjahre in Japan und den USA
Muschg studierte Germanistik und Psychologie an den Universitäten Zürich und Cambridge UK, wo er über Barlach dissertierte. Er lehrte an der International Christian University in Tokio und erlebte dort in den frühen 60er Jahren die ersten Proteste von Studierenden. In Tokio schrieb er den ersten Roman «Im Sommer des Hasen», der gleich ein Erfolg wurde. Darauf folgten zwei Aufbruchjahre in den USA. Zwischen 1967 und 69 unterrichtete er an der renommierten Cornell University in Ithaca (wo übrigens zuvor die berühmte US- Bundesrichterin Ruth Bader Ginsberg studiert hatte). Muschg nahm an den Protesten gegen den Vietnamkrieg teil und engagierte sich als Wahlhelfer für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Eugene McCarthy (Gegner des republikanischen Hexenverfolgers Joseph McCarthy). Muschg erlebte, wie auf seinem Campus Bob Dylan live auftrat und bewaffnete Black Panters zum ersten Mal in den USA ein Universitätsgebäude besetzten.
Schreibwerkstätten und Think Tank an der ETH
«Wenn ich in der Zeit von 1968-69 in Europa gewesen wäre, und gezwungen oder veranlasst oder motiviert, mich mit dem Aufbruch der Jugend zu solidarisieren, das wäre ja nicht ausgeblieben», sagt er im Rückblick, «dann hätte ich meine Stelle an der ETH vergessen können. Man hätte meine Professur aus politischen Gründen abgelehnt.» – Ab 1970 war Adolf Muschg 30 Jahre lang Literaturprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, der ETH Zürich, wo er eine liberale Unterrichtsform praktizierte, auch für Nicht- Studierende, und in offenen Schreibwerkstätten junge Talente förderte, darunter die Schriftstellerin Ruth Schweikert und die spätere Trägerin des Deutschen und des Schweizer Buchpreises, Melinda Nadj Abonji. Am Ende seiner Amtszeit gründete er an der ETH das Collegium Helveticum, ein interdisziplinärer Think Tank für Fellows aus aller Welt.
Mitwirkung in der Politik
Mitte der 70er Jahre kandidierte Adolf Muschg für die kleine Kammer des Parlaments in Bern, den Ständerat, schaffte die Wahl jedoch nicht, obschon ihm Max Frisch und Günter Grass Pate standen. Dafür wurde er in zwei Eidgenössische Kommissionen gewählt, deren eine die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung vorbereitete. Noch heute stammt deren Präambel von Adolf Muschg. Der Schriftsteller und Professor war ein politischer Mensch. Als der Staatsschutz-Skandal aufflog, der enthüllte, dass in der Schweiz von mehr als 700‘000 Personen und Organisationen 900‘000 politpolizeiliche Fichen (Karteikarten) und Akten existierten, darunter viele Spitzelberichte, da trat Adolf Muschg am 3. März 1990 an der Massendemonstration von 30‘000 besorgten Bürger:innen auf die Rednerbühne und sagte: «Die Schweiz muss ausstinken, bevor man darin wieder atmen kann.» Er forderte den Rücktritt der Verantwortlichen und zweier Mitglieder des Landesregierung.
West-östliche Kultur
Bald zog es ihn wieder in die Ferne, zuerst mit einem Stipendium in die USA, dann nach Japan, wo er 1991 auf einer Lesereise seine dritte Ehefrau kennenlernte, Atsuko Muschg Kanto. Er suchte die Zen-Gelehrten Hisamatsu Shin-ichi und Harrada Sekkai auf, bis er beim uralten Meister Suzuki Taisetz in Kamakura fand, was er wirklich suchte: das Andere in sich selbst. «Japan ist mein Anderes gewesen im Leben, das ich mir aneignen wollte, wo ich meine eigenen Grenzen kennenlernte und mehr oder weniger mit diesen Grenzen leben lernte, mit oder ohne Japan, aber Japan war das Medium dafür. Wir müssen das was wir Osten nennen, und das was wir Westen nennen, ausbalancieren. Ich habe gefunden, dass alle Klischees nicht stimmen. Mein Nachbar in Männedorf kann deutlicher anders sein als mein Nachbar in Kyoto. – Wir lernen im Andern, wenn wir Glück haben, uns selbst besser kennen. Das Schöne am Andern: man erfährt zwar nichts über ihn, aber eine Menge über sich selbst.» Mit diesem Phänomen befasste sich Adolf Muschg auch in seinen Büchern.
Das Andere in sich selbst
«Ich habe die Zen-Praktik mitgemacht, das Za-Zen, das Sitzen solange meine Knie hielten, und habe natürlich an nichts denken können, als an meine schmerzenden Knie – es dauert lange, bis man sie vergisst, und es gibt viele Weisen, sie zu vergessen, irgendwann einmal wird der Schmerz so gross, dass er leer wird. Und wir sind nicht mehr daran gewöhnt, in der Leere die Fülle zu sehen, wie zum Beispiel die Japaner im Vollmond den Leermond sehen. Und im Ying das Yang, im Dunkeln das Helle. Das gehört zusammen. Und wir trennen, in der digitalen Welt ohnehin, da haben wir eigentlich dauernd Alternativen im Kopf, entweder oder, schwarz oder weiss, vergänglich und ewig. Diesen Unterschied macht der Zen- Buddhismus nicht, das Vergängliche ist ewig, und das Ewige ist vergänglich. – Der Kern des Buddhismus ist eben, dass wir so wie wir sind, den Andern gleich sind, weil wir selbst auch anders sind, als wir denken; es ist ein auf den ersten komplizierter Gedankengang. Aber ganz entschieden entspricht er nicht dem westlichen Menschenmodell: das In-dividuum, das Unteilbare! – Nein, wir sind zum Glück teilbar.» Dieser west-östliche Blick auf das Individuum (in-dividere = nicht teilen) ermöglicht nicht nur eine andere Sichtweise auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern erweitert auch das gesellschaftspolitische Bewusstsein im Umgang mit den Fremden, den Andersdenkenden und Andersartigen.
Präsident der Akademie der Künste
Das höchste Amt, das ein Künstler im deutschen Sprachraum bekleiden kann, ist das Präsidium der Akademie der Künste. Adolf Muschg hatte es von 2003 bis 2006 inne. In seine Amtszeit fiel der Umzug vom Hansaviertel-Berlin in den Neubau, ein Glaspalast am Pariser Platz, angrenzend ans bekannte Hotel Adlon beim Brandenburger Tor. Zu seinem Bedauern änderte sich in seiner Amtszeit jedoch nicht viel, ausser dass die Architektur der Transparenz diesem arg kriegszerstörten und im kalten Krieg von der Berliner Mauer umgebenen Ort neues Leben einhauchen soll. In der neuen Akademie, beginnt der Film mit einer Lesung von Adolf Muschg, eingeführt von der aktuellen Präsidentin, Jeanine Meerapfel, und umrahmt von einem Gespräch mit dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert.