Dem Luzerner Theater gelingt eine beeindruckende Inszenierung des Musicaltheaters Woyzeck, welches die Seelenverwandtschaft von Tom Waits mit Georg Büchner herausstreicht.
Luzerner Theater | Woyzeck
Kritik:
Eben noch singt Andres in witzig-schlüpfrigen Limericks zum Amüsement des Publikums über männliche Unzulänglichkeiten und Begierden (IT’S JUST THE WAY WE ARE BOYS), holt die sieben exzellenten Musiker zum Couplet aus dem Graben, Minuten später bringt Woyzeck seine Geliebte zu Mark und Bein erschütternden, das Gehör bis zur Schmerzgrenze ausreizenden Klängen um. Eben noch hängt Woyzeck mit dem Ohrwurm SHE’S MY CONEY ISLAND BABY Tagträumen und Wunschvorstellungen in seinem tristen Dasein nach, dann reissen schräge, gehetzte Dissonanzen ihn wieder in die brutale Realität des ewigen Underdog, (MISERY IS THE RIVER OF THE WORLD) zurück. Von diesen Spannungsfeldern lebt das Schauspielmusical WOYZECK, welches vom Premierenpublikum in Luzern zu Recht mit einer Riesen Begeisterung aufgenommen wurde. Das Inszenierungsteam (Regie Andreas Herrmann, Bühne: Max Wehberg, Kostüme: Catherine Voeffray, Licht: Gérard Cleven) hat zum Glück auf äusserliches Spektakel und Schockeffekte verzichtet. Diese nämlich braucht die starke Vorlage Büchners gar nicht. Wie die schmerzlichen Gedanken in Woyzecks Kopf dreht sich die Drehbühne unaufhaltsam, kommt nur selten zum Stillstand; Versuche, dagegen anzutreten, scheitern. Eine raffinierte Konstruktion aus drei ineinander verschachtelten Quadern aus rohen Sperrholzplatten und ein Kinderwagen reichen zusammen mit dem raffinierten Lichtdesign vollständig aus, um eine Geschichte zu erzählen, welche unter die Haut geht. Zwar kann man immer mal wieder lachen in diesem Trauerstück, doch schon im nächsten Moment bleibt einem dieses Lachen im Hals stecken. Die Intensität der neun Darstellerinnen und Darsteller, ihre enormen physischen und gesanglichen Leistungen verdienen höchstes Lob. Hans-Caspar Gattiker ist ein verletzlicher Woyzeck. Seine Stimme ist weich, manchmal beinahe brüchig, in den Songs, er ist ein ewig Suchender, Gehetzter – und wirkt gerade dadurch so Mitleid erregend. Wiebke Kaysers Marie beginnt sehr zart und anrührend, nach dem erotischen Abenteuer mit dem Tambourmajor wirkt sie selbstbewusster, kantiger. Ganz stark sind die Auftritte von Samia von Arx als Idiot. Die Schlussszene mit der verdoppelten Märchenerzählung und dem gehauchten Wiegenlied zählt zu den eindringlichsten dieses unglaublich spannenden und tief berührenden Abends.
Fazit: Unbedingt hingehen! Direkt, erschütternd, bewegend!
Werk und Inhalt:
“Woyzeck handelt von Wahnsinn und von Obsessionen, von Kindern und von Mord – alles Dinge, die uns berühren. Das Stück ist wild und geil und spannend und Phantasie anregend. Es bringt einen dazu, Angst um die Figuren zu bekommen und über das eigene Leben nachzudenken. Ich schätze mal, mehr kann man von einem Stück nicht verlangen.” (Tom Waits)
Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Dramenfragment Georg Büchners aus dem Jahr 1837, das heute zu den meistgespielten Dramen der deutschen Literatur gehört. Es ist die düstere, aber auf Tatsachen beruhende Geschichte des Soldaten Franz Woyzeck, der sich im Kampf um das tägliche ?berleben u.a. als Versuchskaninchen für zweifelhafte medizinische Experimente verdingt. Physisch und psychisch wird Woyzeck von seiner Umgebung misshandelt, was bei ihm zu Wahnvorstellungen führt. Als er entdeckt, dass seine Geliebte ihm untreu ist, gehorcht er den inneren Stimmen, die ihm befehlen, sie zu töten.
Die Musik, welche Tom Waits auf Songtexte seiner Frau Kathleen Brennan schrieb, ist klingt aggressiv und brutal, aber auch mitfühlend und romantisch und spiegelt so das Leid des empfindsamen Protagonisten, welcher an seiner grausamen Umgebung zerbricht. Das Trio Waits/Brennan/Wilson zog das Stück nach der Uraufführung zurück. Dem Theater Oberhausen gelang es vor einem Jahr als erstem im deutschsprachigen Raum, die Aufführungsrechte zu bekommen.
Das Stück ist in dieser Saison auch in Bern zu erleben (Premiere und Schweizerische Erstaufführung: 12. September 2009).
Büchners Fragment diente auch Alban Berg und Manfred Gurlitt als Vorlage zu ihren gleichnamigen Opern. Gurlitts Oper ist gegenwärtig ebenfalls im Luzerner Theater in einer überaus empfehlenswerten Inszenierung zu sehen.
Musikalische Höhepunkte:
Misery Is The River Of The World
Everything Goes To Hell
Coney Island Baby
God’s Away On Business
Lullaby (Nothing’s ever…)
(Woyzeck’s) Woe
Diamond In Your Mind
It’s Just The Way We Are Boys
Für oper-aktuell.blogspot.com und art-tv.ch: © Kaspar Sannemann, 19. September 2009