Gaetano Donizettis Oper »Il diluvio universale« steht im Mittelpunkt der 5. St.Galler Festspiele – eine sehens- und hörenswerte Opernrarität mit biblischem Hintergrund – erzählt mit der Musik von Belcanto-Spezialist Gaetano Donizetti, aufgeführt vor der monumentalen Kulisse der barocken Kathedrale.
Klosterhof SG | Il diluvio universale
Kritik:
Audi, vide, tace, si vis vivere in pace (Höre, sieh und schweige, wenn du in Frieden leben willst) – so lautet ein lateinisches Sprichwort. Und so machen es auch die drei Affen, welche die Inszenierung von Donizettis Frühwerk IL DILUVIO UNIVERSALE als stumme Zeugen begleiten – und dank eines bunten Regenschirms die grosse Sintflut wahrscheinlich auch überleben und somit in Frieden weiter leben werden … Wahrlich, es gibt viel Beglückendes zu hören, viel Amüsantes zu sehen an diesem Abend – doch darüber darf man nicht schweigen, darüber MUSS man sprechen. Die Inszenierung von Inga Levant ist eine Riesengaudi. Das mag Puristen (und solche, die sich dafür halten) erst mal erschrecken. Die erfrischende Respektlosigkeit, mit welcher sie sich der nur zum Teil biblischen Vorlage nähert, ist umwerfend komisch, aber beileibe nicht einfältig. Sicher könnte man das Werk auch monumental-kitschig auf die Bühne bringen, wie das Regisseure wie John Huston oder Cecille B. DeMille mit dem Stoff auf der Leinwand getan haben. Lustigerweise siedelt Frau Levant die Geschichte zwar in der Nähe Hollywoods an, doch jenseits allen historisierenden Schnickschnacks – sie beschwört den Kitsch der Sixties, zeigt schein-rivalisierende Clans, welche ab und an beinahe im Stil von amerikanischen Soap-Operas agieren: Da ist einerseits der Familienclan um Noah, an die Kelly Family erinnernde Hippies mit langen Haaren, selbstgefärbten Gewändern und Gitarren. Den Gegenpol bilden die Silberwölfe aus der Grossstadt, vergnügungssüchtige Schickimicki Cowboys, welche mit Herablassung auf die handgestrickte Sekte Noahs blicken. Noah beschäftigt eine ganze Armee tierischer Sklaven: Fleissige Bienchen, welche unentwegt Warnwesten nähen, Milchkühe, welche Vorräte liefern für die Zeit der Apokalypse und Hennen, welche diese Vorräte in Umzugskartons verpacken. Zwischen diesen Welten steht Sela: Sie folgt dem Guru Noah, kann aber verständlicherweise ihren gutaussehenden Cowboy-Gemahl auch nicht vergessen. Die Kostüme von Friedrich Eggert sind zwar schrill, doch beinhalten sie eine stimmige Farbdramaturgie: Sela trägt noch das kalte Türkis der Wölfe, hat aber auch bereits Accessoires der Kelly (Noah) Family und die erdigen Farbtöne der Sekte angenommen. Auch auf Seiten der Silberwölfe sind Überläufer zu bemerken: Einige Bienchen und Hühnchen besitzen bereits Cowboyhüte und Wolfsschwänze. Unzählige witzige Details der Personenführung und ein nie versiegender Quell von urkomischen Einfällen prägen den Abend:
Die Arche: Ein nostalgisches Schweizer Postauto, welches auch den Dirigenten auf die an ein Schiff erinnernde Holzkonstruktion der Bühne führt / Die Entnahme der DNA von den Tierchen, bevor Noah mit dem Postauto das Weite sucht / Die Prophezeiung der Sintflut als simpler Wetterbericht u.v.m.
Einmal mehr ist man im Klosterhof St.Gallen beeindruckt von der musikalischen Qualität der Aufführung. Unter der stilsicheren Stabführung von Maestro Antonino Fogliani erklingt Donizettis Frühwerk rhythmisch präzise, schwungvoll und mit der gebotenen Prise von mitreissender Italianità. Das Orchester ist, im Gegensatz zum letzten Jahr, vom Publikum zu sehen. Die Koordination für die Sängerinnen und Sänger und die sauber intonierenden Chöre (Theaterchöre St.Gallen und Winterthur, Prager Philharmonischer Chor) muss jedoch über Monitore und eine Grossleinwand laufen. Der sehr angenehm abgemischte Gesamtklang zeigt erneut, auf welch hohem Niveau die Tontechniker (Leitung Frank Sattler) in St.Gallen arbeiten.
Die Premierenbesetzung begeistert sowohl darstellerisch als auch sängerisch: Majella Cullagh singt die dankbare Partie der Sela mit grossem Atem, exquisitem, leicht gutural-erotischen Timbre und erfüllt sie mit berührender Innigkeit. Die wunderschön gesungene Cabaletta im ersten Akt verzaubert sogar die drei Affen kurzfristig, sie klettern vom Kran herunter, um dieser „Joan Baez“ zuzuhören, welche singend mit ihrer Gitarre einen Reigen anführt. Als ihr Ehemann Cadmo lässt Filippo Adami mit edlem tenoralem Schmelz, mühelosen Spitzentönen und geschmeidigen Fiorituren aufhorchen: Ein tenore di grazia mit erlesenem Timbre, vollendeter Geläufigkeit in der Kehle – und blendendem Aussehen! Zudem bewährt er sich auch als sicherer und wendiger Fahrer, der sein Elektro-Golfmobil mit Lust über die Bühne steuert!!! Zwischen die beiden drängt sich die falsche Schlange Ada: Manuela Custer liefert stimmlich und darstellerisch wahre Kabinettsstückchen. Ihre satte, warm und opulent strömende Mezzsopranstimme verfügt über ein solides, herrlich dunkel funkelndes Fundament, sie vermag die perlenden Koloraturen mühelos mit hinreissend komischer Interpretation des Charakters der Ada zu verbinden. Köstlich ihre grosse Szene im zweiten Akt, wenn sie sich schon am Ziel ihrer Täume wähnt, vom Shopping zurückkehrt, die ollen Silberwolfklamotten und die Brille wegwirft, sich Kontaktlinsen einsetzt und sich unter Aneignung von Selas Pelz in einen geschmeidigen Rotfuchs verwandelt – und dies alles, während sie glanzvoll eine schwierige Arie intoniert. Die vierte grosse Partie, die des Noah (Noè), wird vom Bassisten Mirco Palazzi imponierend klangschön gesungen. Die Preghiera im dritten Akt und das anschliessende Concertato geraten so zu einem veritablen Showstopper, das ist so gefühlvoll sanft intoniert und so eindringlich berührend, dass selbst die Sklaven-Tierchen zu schunkeln beginnen!
In den kleineren Rollen bewähren sich Carlos Petruzziello als smarter Cowboy Artoo und die Mitglieder der Noah – Family (David Maze, Riccardo Botta, Frank Uhlig, Dana Petrova, Fiqerete Ymeraj, Elena Svetnitskaya, welche sich so ganz beiläufig auch sehr „menschliche“ Eifersuchts-Szenen einer Ehe innerhalb der Sekte liefern).
Bis fast zum Schluss hat man über lange Strecken das Gefühl: Eine Sintflut, die ist lustig, eine Sintflut die ist schön, hei da kann man was erleben, hei da kann man etwas seh’n … doch kaum ist die Arche, äh das Postauto, entschwunden, stört die über Bord gesprungene Sela – durchnässt und mit Rettungsring in der Hand – die Orgie des Hochzeitsfestes von Cadmo und Ada. Mit ihrer Verfluchung Gottes bricht die Sintflut herein, unheimliche Sensemänner schreiten über die Bühne. Es bleibt nur zu hoffen, dass das Publikum vor lauter Begeisterung über die Aufführung diese Warnung an die Vergänglichkeit des Menschen (und die ab dem zweiten Akt auf der Bühne präsenten Hinweise auf die sieben Todsünden) mit auf den Heimweg in diese laue Sommernacht nimmt.
Fazit:
Inspirierte, amüsant lebendige Inszenierung einer zu Unrecht vernachlässigten Oper Donizettis, phantastische Protagonisten und das einmalige Ambiente des Klosterhofs sind Grund genug für eine Reise nach St.Gallen!
Inhalt:
Noah und seine Familie sind vor der Arche im Gebet versunken. Der heidnische Cadmo ist aufgebracht über das Verhalten seiner Ehefrau Sela, da diese Noah und dessen Gedankengut viel Sympathie entgegenbringt. Ein Versuch Cadmos, die Arche niederzubrennen, misslingt dank (oder wegen …) Selas Unterstützung für Noah. Artoo, der Hauptmann Cadmos, warnt Sela vor dem Zorn ihres Ehemannes. Cadmos Zweitfrau und Vertraute Selas, Ada, liebt Cadmo und will davon profitieren, dass Sela bei ihrem Ehemann in Missgunst gefallen ist, indem sie Cadmo Lügen über eine Beziehung zwischen Sela und Noahs Sohn Jafet auftischt. Cadmo ist zerrissen zwischen seiner Liebe zu Sela und seinem Hass auf die Familie Noahs. Atoo und Cadmo überfallen den Clan Noahs und nehmen alle gefangen. Im Aktfinale bittet Sela um Gnade für die Gefangenen, während Noah den Zorn und die Rache seines Gottes beschwört.
Ada lässt nicht locker und versucht erneut Cadmos Herz zu gewinnen. Cadmo verspricht ihr, sie zu ehelichen, sobald Sela wegen ihres Verrats hingerichtet worden sei. Sela verlangt von Cadmo, noch einmal ihren gemeinsamen Sohn sehen zu dürfen, bevor sie sterben müsse. Dieser Wunsch wird ihr nicht gewährt, im Gegenteil, Cadmo mokiert sich über sie, gibt sie der Lächerlichkeit preis. In ihrer Verzweiflung betet sie zum Gott Noahs.
Sela, begleitet von Wachen, unterrichtet Noah über die bevorstehenden Todesurteile gegen sie und ihn. Noahs Vision der Sintflut verstärkt sich und er führt seine Familie zur Arche. Sela weigert sich, mit an Bord zu gehen.
Unterdessen werden am heidnischen Hof die Vorbereitungen zur Hochzeit zwischen Cadmo und Ada getroffen. Sela tritt dazwischen und bittet erneut darum, ihren Sohn sehen zu dürfen. Cadmo verspricht ihr, sie wieder in der Familie aufzunehmen, falls sie öffentlich ihrem neuen Gott, dem Gott Noahs, abschwört. Nach kurzem Zögern verflucht sie Jehova. Da bricht der Sturm los, die Fluten steigen, die heidnische Sippe Cadmos ertrinkt. Die Wolken teilen sich und man sieht Noahs Arche sicher auf dem Wasser treiben.
Werk:
Gaetano Donizetti (1797-1848), der neben Rossini und Bellini bedeutendste italienische Opernkomponist des Belcanto, hinterliess nicht weniger als 75 Opern. Neben seinen bekannten Hauptwerken (LUCIA DI LAMMERMOOR, ANNA BOLENA, MARIA STUARDA, L’ELISIR D’ AMORE, DON PASQUALE) tauchen seit einigen Jahrzehnten zum Glück immer wieder unbekanntere Perlen seines reichen Schaffens auf den Spielplänen auf. IL DILUVIO UNIVERSALE gehört dazu. Schon zu Lebzeiten des Komponisten wurde die Oper nur selten aufgeführt, nach 1837 verschwand sie komplett von den Bühnen, um erst 150 Jahre später in Genua wieder zu einer Aufführung zu gelangen. Donizetti selbst schätzte seine Oper jedoch sehr und hat daraus immer wieder Szenen und Arien entnommen und sie in anderen seiner Opern verwendet. Die Wahl des biblischen Stoffes kann wohl als Reaktion auf Rossinis Oper MOSÈ erklärt werden. Der Komponist und sein Librettist reicherten die biblische Vorlage mit einer romantisch-dramatischen Dreiecksgeschichte an. Donizettis untrüglicher Theaterinstinkt witterte in der Verschmelzung von sakralen und weltlichen Elementen zu Recht die Basis für effektvolle Arien, Duette und Aktfinali. Dank Donizettis überragender musikalischer Eingebungskraft lohnt es sich auf jeden Fall, das Werk aus der Dunkelheit des Vergessens zu holen.
*Musikalische Höhepunkte:3
Oh, Dio di pietà, Noah, Ensemble, Akt I
Mentre il core…Perche lell’anima, Cavatina und Caballetta der Sela, Akt I
_Ah perfida! …a me spergiur_a, Duett Ada-Cadmo, Akt I
Finale Akt I
Ah, non tacermi in core, Arie der Ada, Akt II
Ebben se chiudo…E tanta crudeltade, Duett Sela-Cadmo, Akt II
Dio tremendo, Gebet des Noah, Akt II
Senza colpi mi scacciasti, Arie der Sela, Akt III
Für art-tv und oper-aktuell : Kaspar Sannemann, 27.Juni 2010