Musik im Zeichen der Selbstbestimmung in der Kartause Ittingen
Das Programm reicht von Bachs «Goldberg-Variationen» zu Werke von Musikern, die im Konzentrationslager von Theresienstadt lebten.
Bereits im Jahr 2019 hat Nicolas Altstaedt als künstlerischer Leiter auf grossartige Weise bewiesen, dass er nicht nur als Solist an seinem Instrument zu den Besten seiner Zunft zählt. 2023 wird sein für 2020 geplantes und wegen der Pandemie entfallenes Festivalprogramm nachgeholt – in leicht modifizierter Form. Das Motto der Pfingstkonzerte 2023 lautet «Autonomia». arttv hat die Generalproben besucht und zeigt den Musiker ganz in seinem Element.
Nicolas Altstaedt wird nicht nur als Solist und Kammermusiker weltweit geachtet. Auch als Festivalleiter hat er sich längst einen klangvollen Namen gemacht, insbesondere beim Lockenhaus Festival. Ausserdem ist er seit 2014 Nachfolger des Dirigenten Ádám Fischer als Leiter der Haydn Philharmonie.
Die Kartause Ittingen zählt zu den bedeutendsten Kulturdenkmälern der Bodenseeregion. Das ehemalige Kartäuserkloster ist seit 1983 ein Kultur- und Seminarzentrum mit vielfältigem Angebot. Die ehemalige Klosteranlage zu erkunden ist ein Erlebnis. Auch wenn ein reges Treiben herrscht, können verborgene Winkel entdeckt werden, laden ruhige Orte ein zum Verweilen in der Stille. Eine ganz besondere Stimmung erfahren Sie in den Kreuzgärten – Idylle pur – mit einer Fülle von historischen Rosen und Obstbäumen. Die traumhafte Umgebung atmet noch heute den Geist ihrer Geschichte. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kartause verändert, ihre Türen weit geöffnet für die Gegenwart und die Menschen, die hier zeitgemässe Musse und Inspiration jenseits der Hektik suchen.
Überblick über die sieben Konzerte
Gipfelwerke der Kammermusik
Bereits das Eröffnungsprogramm beweist die grosse stilistische Bandbreite der diesjährigen Pfingstkonzerte und den Mut zu Programmen, die man im normalen Konzertbetrieb kaum erleben kann. Drei Werke des 20. Jahrhunderts stehen im Mittelpunkt: «Psappha» von Iannis Xenakis und das 1946 entstandene Streichtrio von Arnold Schönberg, eines der Gipfelwerke der Kammermusik aus jener Zeit; schliesslich das Quintett für zwei Bläser und Klaviertrio des 1907 in Kiew geborenen Komponier-Autodidakten Constantin Regamey. Dieses Werk wurde erstmals 1944 im belagerten Warschau aufgeführt.
Schwerpunkte Leoš Janáček und Antonín Dvořák
In einem ungewöhnlichen Spannungsfeld bewegen sich die Werke dieses Matinée-Konzerts: Hans Krása und Gideon Klein lebten und arbeiteten
unter unmenschlichsten Bedingungen im Konzentrationslager von Theresienstadt, rund 50 km von Prag entfernt. Die «Goldene Stadt» wiederum war, noch vor den Schrecken durch die Nationalsozialisten, ein zentraler Ort im Leben von Leoš Janáček und Antonín Dvořák gewesen, dessen Kammermusik bei den diesjährigen Pfingstkonzerten einen eigenen Schwerpunkt bildet.
Sinfonie «Aus der neuen Welt»
Bohuslav Martinů zählt zu jenen Komponisten, die der nationalsozialistischen Tyrannei durch Flucht in die Vereinigten Staaten entkommen konnten. Sein Werkkatalog ist ungewöhnlich reich und vielfältig, geprägt von einer sehr persönlichen, sich kaum an Traditionen orientierenden Klangsprache. Auch Erich Wolfgang Korngold musste, seiner Herkunft wegen, in den 1930er Jahren Schutz in den USA suchen. Als Jugendlicher wurde er, vor allem in Wien, als Wunderkind gefeiert. Auch die Spuren des Es-Dur-Streichquintetts von Antonín Dvořák führen nach Amerika, wo der Komponist nicht nur seine berühmte Sinfonie «Aus der neuen Welt» komponiert hat, sondern auch zauberhafte Kammermusik.
Irdisch-himmlische Musik
Auch dieses Konzert wird dem Motto des diesjährigen Festivals in mehrfacher Hinsicht gerecht: «Autonomia» – Selbst- bestimmtheit. Das zeigen ungewöhnliche Besetzungen wie bei Luciano Berios «Naturale» und bei Knut Nystedts «Stabat mater». Die Gegenüberstellung von Solo-Cello und A-cappella-Chor ist nicht einzigartig in der Musikgeschichte, aber sehr selten. «In Paradisum» von Ēriks Ešenvalds wurde 2012 erstmals in seiner lettischen Heimat aufgeführt – eine wahrhaft irdisch-himmlische Musik. Und freuen wir uns, dass der französische Komponist Benjamin Attahir ein neues Werk für die Ittinger Pfingstkonzerte geschrieben hat.
Bachs «Goldberg-Variationen»
Ein Gipfelwerk der Cembalo- und Klavierliteratur stellen die «Goldberg-Variationen» von Johann Sebastian Bach dar. Das Thema, die berühmte Aria, stammt aus Anna Magdalenas Notenbüchlein. Bach nimmt es als Grundlage für einen minutiösen Bauplan von 30 Veränderungen, bevor am Ende noch einmal die Aria erklingt und so dem Werk eine zyklische Rundung verleiht. Bach hat ausdrücklich ein Cembalo mit zwei Manualen vorgesehen und auffallend präzise bezeichnet, bei welchen Variationen die Hände auf welchem Manual zu spielen haben. Jean Rondeau nähert sich seit vielen Jahren den «Goldberg-Variationen» immer wieder neu an.
Musik vom Hofe des Sonnenkönigs
Dieses Konzert entführt uns in die Welt des französischen Barock, eine ungewöhnlich reichhaltige und produktive Phase innerhalb der europäischen Musikgeschichte. Geprägt wurde sie wesentlich vom Geschmack und den Lebensgewohnheiten am königlichen Hof. Die Werke aus dieser Zeit bieten bis heute immer wieder Gelegenheit zu neuen Entdeckungen. So zum Beispiel die Musik von Marin Marais, dem man zweieinhalb Jahrhunderte später ein filmisches Denkmal gesetzt hat: Der Spielfilm «Tous les matins du monde» («Die siebente Saite») porträtiert den Komponisten Marin Marais, seinen Aufstieg und Ruhm am Hofe von «Sonnenkönig» Louis XIV.
Festivalausklang mit Beethoven, Schubert und Dvořák
Zum Abschluss der Pfingstkonzerte präsentieren die Musiker:innen um Nicolas Altstaedt selten zu hörende Chormusik von Ludwig van Beethoven und Franz Schubert sowie eines der absoluten Meisterwerke der Gattung Klavierquartett. Antonín Dvořák hat es im Sommer 1889 komponiert, in einem wahren Schaffensrausch: «Mein Kopf ist so voll, wenn der Mensch das doch alles gleich aufschreiben könnte! (…) Es geht unerwartet leicht, und die Melodien strömen mir nur so zu. Gott vergelt’s!» – ein würdiger Ausklang des diesjährigen Festivals.