Namhafte Wissenschaftler wie der US-amerikanisch-österreichische Systemtheoretiker und Philosoph Fritjof Capra, der langjährige persönliche englische Übersetzer des 14. Dalai Lama, Thupten Jinpa Langri, Niko Paech, ein prominenter Vertreter der Postwachstumsökonomie, die bekannte US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor, sowie die US-amerikanisch-australische Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim, halten im Verkehrshaus der Schweiz öffentliche Vorträge.
Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik + Ästhetik | Bewusstsein und den Geist neu denken
- Publiziert am 18. Oktober 2021
Dr. phil. René Stettler, Gründer der vor über 25 Jahren ins Leben gerufenen Veranstaltung, im arttv Interview
Seit 1995 zieht die Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik und Ästhetik ein globales Publikum an und bringt Experten der Hirn- und Bewusstseinsforschung in die Schweiz. Die Biennale befasst sich mit wissenschaftlichen und spirituellen Fragen unseres modernen Zeitalters, mit der Kultivierung von ökologischer Achtsamkeit und einer nachhaltigen Lebensweise – und mit der Wechselwirkung von buddhistischem Gedankengut und der Wissenschaft, die sich der interdisziplinären Forschung, intellektueller Partnerschaft und dem öffentlichen Diskurs widmet. Die 14. Schweizer Biennale setzt die Auseinandersetzung mit den bedeutsamsten Fragen der Menschheit über unser Wahrnehmungsvermögen und Bewusstsein sowie die Zukunft von Künstlicher Intelligenz (KI) fort.
Spitzenvertreter verschiedener Fachgebiete aus Australien, Deutschland, Kanada, der Schweiz, und den USA, halten am 22. Oktober 2022 in Luzern Vorträge. Unter ihnen ist die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor, die 1996 einen Schlaganfall erlitt und in dieser Zeit wesentliche geistige Fähigkeiten verlor. Zum dritten Mal spricht Fritjof Capra an der Biennale. Mit einem ganzheitlich-systemischen Ansatz stellt er eine Verbindung zwischen östlicher Mystik und moderner Physik her und setzt sich für eine nachhaltige ökologische Lebensweise in der globalen Zivilgesellschaft ein. Niko Paech ist einer der prominentesten Vertreter der Postwachstumsökonomie. Er präsentiert im Kontext der sich zuspitzenden Klimakrise Lösungen in den Bereichen Klimaschutz und nachhaltiger Konsum. Marion Neumann spricht über ihren neuen preisgekrönten Film «The Mushroom Speaks» (2021). Was wäre, wenn Pilze helfen könnten, unser Verhältnis zur Welt zu überdenken und uns radikal zu verändern? Alle Referate werden simultan von Englisch auf Deutsch oder umgekehrt übersetzt.
René Stettler, die Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik + Ästhetik feierte vor zwei Jahren das 25-Jahre-Jubiläum. Was dürfen wir an der kommenden Ausgabe erwarten?
An der kommenden Biennale treten international bekannte Referenten der Fachgebiete Philosophie des Geistes, Neurowissenschaft, Physik, Indische und Tibetische Buddhistische Philosophie, Postwachstumsökonomie und Künstliche Intelligenz-Forschung, auf. Sie kommen diesmal aus Australien, Deutschland, Kanada, der Schweiz, und USA.
Seit der Gründung der Biennale haben Sie neben der Quantenphysik oder der Neurologie zunehmend auch den Bereichen Buddhismus und Ökologie Platz eingeräumt. Was sind die Gründe?
Der Mensch hat «Geist» und seine Identität wird in Beziehung zur Umwelt gebildet. Es ist etwas sehr Einzigartiges und grenzt an ein Wunder. Niemand kann jedoch sagen, ob dieser «Geist» den Planeten nicht zugrunde richten wird. Der Mensch wäre dann klar ein Fehlversuch der Natur gewesen und die Zivilisation ein kurzer Augenblick in der ganzen Erdgeschichte. Was uns fehlt, ist eine Philosophie und Wissenschaft, die objektiv die Auswirkungen des einzelnen Menschen und ganzer Gesellschaften untersucht, die auf der Basis von Materialismus, Hedonismus und Konsumismus die Ökosphäre zerstören und die menschliche Zivilisation untergraben.
Lässt sich diese Entwicklung korrigieren?
Es braucht Philosophen und Wissenschaftler, die offen die entmenschlichenden und demoralisierenden Konsequenzen aller materialistischen Ansichten des Geistes anerkennen. Die Wechselwirkung von buddhistischem Gedankengut und der Wissenschaft, die sich der interdisziplinären Forschung nicht verschliesst, bildet einen Anker. Es gibt buddhistische Poesien, die Hinweise auf ein ökologisches Bewusstsein aufzeigen. Das Erwachen eines ökologischen Verständnisses von uns selbst und unserem Bewusstsein ist möglich.
Was erwartet die Besucher*innen der Biennale?
Ich kann einen anregenden Tag mit überraschenden Geschichten und provokativen Gedanken von Forschenden garantieren, die am Rand von wissenschaftlicher Innovation, der Natur des Bewusstseins, des menschlichen Geistes und des Buddhismus – und der Ökonomie nachhaltiger Entwicklung arbeiten.
Was ist der Beitrag der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor?
Jill Bolte Taylor eröffnet die Biennale. 1996 erlitt sie einen Schlaganfall in der linken Grosshirnrinde worauf sie eine Hirnoperation hatte und ein Blutgerinnsel in der Grösse eines Golfballs entfernt wurde. Sie verlor in dieser Zeit wesentliche geistige Fähigkeiten, eine Erfahrung, die sie für ihre Forschung und Rednertätigkeit stark inspirierte.
Die klassische Wissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit der Natur des Bewusstseins. Was kann da die Biennale leisten?
Die Biennale ist eine Wissenschaftsplattform, die Forschungswissen vermittelt. Sie bemüht sich um ein tieferes Bild: Es umfasst auf der einen Seite unser Wissen über die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins, das die Neurowissenschaften zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite geht es auch um das phänomenale Bewusstsein: Um das, was wir subjektiv erleben und um die menschliche Fähigkeit, das Erleben und die Bewusstseinsvorgänge unmittelbar zu erfassen. Thupten Jinpa Langri, der zum zweiten Mal in Luzern auftritt und seit über 30 Jahren der englische Übersetzer des 14. Dalai Lama ist, wird über den selbstreflektierenden Charakter des Bewusstseins sprechen – unsere Fähigkeit, uns selber zu betrachten. Es ist eine aussergewöhnliche Qualität, die man in der materiellen Welt nicht findet.
Sie haben einen prominenten Vertreter der Postwachstumsökonomie – Niko Paech – eingeladen.
Zusammen mit Manfred Folkers hat Niko Paech das Buch «All you need is less» geschrieben. Sie beleuchten darin eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht. Was mir besonders gefällt, ist ihre rigorose Analyse der paradoxen Lage der Menschheit. Die gegenwärtige Zivilisation wird von einem Betriebssystem gesteuert, das häufig als «freier Markt» bezeichnet wird. Diese Mischung aus Gewinnstreben, Wettbewerb und Ignoranz beziehungsweise die Kombination aus Mehrung, Machtkämpfen und Illusionen hält die Menschheit auf einem Weg, den sie ohne eine grundsätzlich andere Motivlage nicht verlassen kann. Die Frage, die sich uns heute übergeordnet stellt, ist, wie wir das Wachstums-, Konkurrenz- und Folgenleugnungsprinzip, die sich zu ökonomischen Dogmen verfestigt haben und unserer Kontrolle weitgehend entglitten sind, wieder loswerden können.