Das Schicksal der Schweizer im Russlandfeldzug, wie ihnen ein Lied zu neuer Kraft und Hoffnung verhalf und dadurch zur zweiten Nationalhymne wurde, das zeigt das Historische Museum Luzern ausserordentlich eindrücklich.
Historisches Museum Luzern | Beresina
Der Russlandfeldzug
Dies ist die Geschichte von der perfekten, grössten je gesehenen Kriegsmaschine, die zum menschlichen Desaster wird. Rund 500’000 Soldaten mit 200’000 Pferden, dazu Ochsen, Kanonen und Karren, sind von Königsberg bis Moskau 1300 km durch dünn besiedeltes, kaum befahrbares Gebiet unterwegs, dann marschieren sie ebenso lange zurück und werden nach und nach aufgerieben, einerseits durch Kampfhandlungen, anderseits durch die geographischen und klimatischen Bedingungen. Schliesslich kehren noch rund 18’000 Mann (4 Prozent) grösstenteils krank und verstümmelt, auch psychisch geschädigt, zurück. Beteiligt waren auch vier Schweizer Regimenter mit rund 8000 Mann, nur 400 kehrten zurück.
Dem geradezu unglaublichen Ereignis ist die Ausstellung gewidmet. Ein an der Beresina gedrehter Film erzählt den Verlauf des Feldzuges. Zeitgenössische Pläne, Bilder und Skulpturen dokumentieren Personen und Umstände. Im Zentrum der Ausstellung aber stehen die Erlebnisse der Schweizer Soldaten. Gewisse Schicksale sind uns gut bekannt, von der grossen Masse wissen wir wenig. Zusammen mit schriftlichen Berichten zeugen Objekte vom damaligen militärischen Leben. Die Uniformen der Roten Schweizer und ihre Waffen, die Fahnen, Wimpel und Trommeln sind Zeichen der Militarisierung ganz Europas durch Napoleon. Die Instrumente der Feldchirurgie, das Amputationsbesteck, die Kugelzangen und Trepanationsbohrer vergegenwärtigen ganz lakonisch und besonders eindrücklich die Wirklichkeit des Krieges. Das elegante Reise-Nécessaire des Offiziers, der Kochtopf, das einfache Reisebesteck und das rostige Rasiermesser des Soldaten, die malträtierten Dragonerstiefel, aber auch die Ex Voto Tafel eines Heimkehrers in der Wallfahrtskirche sind Erinnerungsstücke an den Russlandfeldzug. Sie lassen die Strapazen jener Männer im russischen Winter und das mühselige Leben ihrer brotlosen Familien zuhause aufleben.
Das Beresinalied
Die vier Schweizer Regimenter standen im letzten grossen Gefecht dieses Feldzuges besonders stark im Feuer. Sie hatten den Auftrag, den Rückzug der Grande Armée über die Beresina zu decken. Vom 27. bis 29. November 1812 verteidigten sie den Brückenkopf am rechten Ufer der Beresina. Das Beresinalied, für viele die zweite Schweizer Nationalhymne schlechthin, erinnert an diese Tage. Damals, am 28. November 1812, stimmte der Glarner Oberleutnant Thomas Legler in aussichtsloser Situation sein Lieblingslied an: Unser Leben gleicht der Reise eines Wandrers in der Nacht. «Bald gesellten sich noch andere Offiziere zu uns, und diese Morgenstunde verstrich uns unter Gesang und Gesprächen. Es war neun Uhr, als auf einmal eine Kanonenkugel unter teuflischem Geräusch dicht über unsern Köpfen vorbeiflog. Eine Ordonnanz kam angesprengt: ‚Die Linie ist angegriffen.’ Das Feuer war gegenseitig mörderisch. Viele Stabsoffiziere wurden frühzeitig verwundet und mehrere totgeschossen.» Nach der Schlacht an der Beresina traten von den schon stark dezimierten rund 1000 einsatzfähigen Schweizern noch 300 zum Appell an, 100 davon verwundet. Die Geschichte des Beresinaliedes und seiner Wiederentdeckung in der Zeit des Nationalismus und Patriotismus um 1900 ist ein typisches Beispiel schweizerischer Erinnerungskultur.