Die fünf Nominierten der Short-List des Schweizer Buchpreises sind bekannt. Kaum erstaunlich, dass auch die junge Autorin Michelle Steinbeck auf der Liste zu finden ist. Elke Heidenreich hingegen findet Steinbecks Romanerstling grauenhaft. Zu Recht?
Schweizer Buchpreis 2016 | Shortlist
- Publiziert am 23. September 2016
Alles ist relativ
Wie relativ Preise in der Kultur sind, zeigt gegenwärtig die Debatte um den Roman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch der jungen Schweizer Autorin Michelle Steinbeck. Der Roman war zuvor schon auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Für Elke Heidenreich ist das ein Armutszeugnis. Mit gnadenloser Härte kanzelte sie Steinbecks Debüt in der SRF-Sendung Literaturclub ab. Zwei der insgesamt vier Diskussionsteilnehmenden schlossen sich ihr an, wenn auch nicht so pointiert. Für Sebastien Fanzun (NZZ) ist der Roman hingegen «ein beeindruckendes Romandebüt … dieser atemlose, sich überschlagende Prosastil, diese spektakuläre Dichte an Einfällen; dieses Vergnügen an klanglicher Assoziation.» Und Simone Keller meint in der Basler Zeitung: «Die immense Flut an abstrusen Bildern sowie die einfache, klare Sprache machen ihr Debüt einzigartig.» Bei Heidenreich tönt es anders: «Es ist grauenhaft, dieses Buch. Es ist entsetzlich, es ist ein Albtraum, es zu lesen. Das Buch ist unehrlich, verlogen, konstruiert. Und wenn das ernst gemeint ist, dann hat die Autorin eine ernsthafte Störung.»
Empörung
Heidenreichs «populistische» Meinungsäusserung ruft die seriöse Literaturkritik auf den Plan. Guido Kalberer fordert im Tages-Anzeiger Heidenreichs Abgang und erklärt die Literaturkritikerin zur Hypothek für das Schweizer Fernsehen. Auch Manfred Papst geht mit Literaturkritikerin Heidenreich hart ins Gericht und drängt darauf, dass sie vom Bildschirm verbannt wird. Die Realität sieht vermutlich anders aus. Neben der souveränen Moderation von Nicola Steiner sind es in erster Linie Elke Heidenreich und Philipp Tingler, die der Sendung Drive geben. Beides Deutsche. Das mag auch ein Grund sein, dass Heidenreichs Verriss besonders heftige Reaktionen auslöst. Wenn dann noch ein Schweizer Debüt-Roman gemeint ist, hat das Empören keine Grenzen mehr. Anne-Sophie Scholl spricht in diesem Zusammenhang in der Aargauer Zeitung von «Welpen-Schutz». Und doppelt nach: «… neben Martin Ebel und Hildegard Keller gibt es die Literaturwissenschafter Thomas Strässle, Christine Lötscher oder Julian Schütt, denen nicht das fachliche Argument, wohl aber die Farbe fehlt.»
Die Nominierten
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? (Kiepenhauer & Witsch Verlag)
Christoph Höhtker: Alles sehen (Ventil Verlag)
Christian Kracht: Die Toten (Kiepenhauer & Witsch Verlag)
Charles Lewinsky: Andersen (Nagel & Kimche Verlag)
Michelle Steinbeck: Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch (Lenos Verlag)
Grandios oder geistesgestört
Ob mit Buchpreisen überhäuft oder nicht, gelobt oder verrissen, jeder Leser muss sich seine eigene Meinung bilden. In Zeiten absoluter Reiz- und Informationsüberflutung sind Kultur-Preise letztlich ein verständlicher Hilfeschrei nach Aufmerksamkeit. Die inflationäre Preisflut ist Zeuge dafür, dass uns für eine tiefere und umfassendere Auseinandersetzung mit Kultur die Zeit abhanden gekommen ist. Darum wird immer mehr auch einfach das Schwarzweiss-Modell bemüht. Im konkreten Fall heisst das: grandios oder eben geistesgestört. Die Autorin selber behält einen kühlen Kopf und weiss, dass ihr die Debatte nützen wird. So fragt der Tages-Anzeiger: «Sind Sie froh um diese Debatte? Sie bringt Ihnen und Ihrem Buch doch mehr iPublicity als ein fades Lob?» «Ja, bestimmt. Ich habe nicht erwartet, dass mein Buch ein grosses Publikum findet. Aber eine solche Diskussion kann helfen, es bekannter zu machen.» Der Logik von Kulturpreisen folgend, hatte die Kommission vermutlich keine andere Wahl, als Steinbecks Roman auf die Liste zu setzten. Wer will schon freiwillig auf weitere Kontroversen und somit auf Publizität verzichten.