Sie war eine der unbeirrbarsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts: Die Amerikanerin Lee Krasner (1908–1984). Sie war eine Pionierin des abstrakten Expressionismus und erfand sich zeitlebens neu, was in der enormen Energie und Vielfalt der Arbeiten zum Ausdruck kommt. Das Zentrum Paul Klee zeigt in einer grossen Retrospektive rund 60 Arbeiten aus international bedeutenden Museen und Sammlungen und damit die wichtigsten Zeichnungen, Gemälde und Collagen der 1920er- bis 1970er-Jahre.
Zentrum Paul Klee | Lee Krasner. Living Colour
- Publiziert am 10. Februar 2020
Einmalig, ehrlich und brillant
Lee Krasner wird 1908 in Brooklyn geboren. Ihre Eltern jüdisch-russischer Herkunft waren wenige Monate zuvor in die USA migriert. Bereits als Vierzehnjährige verfolgte sie ihr erklärtes Ziel, Künstlerin zu werden, indem sie sich an der damals einzigen Schule in New York bewarb, die einen Kunstkurs für Mädchen anbot. In Krasners Kindheit gab es kein künstlerisches Erweckungserlebnis, keine Begegnung, die ihren Berufswunsch beflügelt hätte – nur einen unbeirrbaren Willen. Sarkastisch, streitlustig, einmalig, ehrlich, brillant – mit diesen Worten beschrieben Weggefährten und Familie Lee Krasner. Ihre Ausbildung war traditionell, sie zeichnete Akte nach Modellen, später nach kubistischen Ideen. Ihr Studium brachte sie aber auch ins Zentrum einer neuen künstlerischen Bewegung in den USA: dem abstrakten Expressionismus.
In Pollocks Schatten
Die neue Kunstrichtung entwickelte sich im Laufe der 1940er-Jahre vornehmlich in New York und vereinte so unterschiedliche Künstler wie Willem de Kooning, Mark Rothko und Jackson Pollock. Letzteren heiratete sie 1945 und stand lange Zeit in seinem Schatten. Gegen Ende ihres Lebens fand ihre künstlerische Leistung zunehmend Anerkennung. Sie gehört zu den wenigen Künstlerinnen, die bisher vom Museum of Modern Art in New York mit einer Einzelausstellung gewürdigt wurden.
Monumentale Gemälde
1957 bezog Lee Krasner das ehemalige Atelier von Jackson Pollock, der ein Jahr zuvor tödlich verunglückt war. Das Studio in Springs bot mehr Raum und Krasner nutzte die Möglichkeit, um mit grossen Formaten zu arbeiten. Sie sprang mit langstieligen Pinseln in der Hand hoch und malte fortan unter Einsatz des ganzen Körpers Werke, die mehr als 2,5 Meter hoch und nicht selten über 4 Meter breit waren. Die dabei entstandenen monumentalen Werkgruppen der 1960er-Jahre gehören zu den Höhepunkten der Ausstellung. Die ersten grossformatigen Arbeiten, die sogenannte Umbra-Serie (1960), schuf Krasner nachts als sie an chronischer Schlaflosigkeit litt. In der Folge reduzierte sie die Farbpalette auf Umbra und Weiss, da sie unter Kunstlicht nicht mit Farben arbeiten wollte. 1962 hielt die Farbe erneut Einzug in Krasners Werk. Während die Künstlerin die rhythmischen Strukturen der Umbra-Serie beibehielt, erlangten die Bilder unter Einsatz kräftiger Farben einen dramatischen Ausdruck. Es entstand die imposante Werkgruppe der Primary Series. Auch für die übergrossen Formate fertigte Krasner nie Entwurfsskizzen oder Vorstudien an. Das Werk musste vielmehr von innen heraus entstehen: «Da ist eine Leere, und dann geschieht etwas, und man hofft, es kommt durch.»
Collagen
Lee Krasner verfolgte nie einen bestimmten Stil, sondern entwickelte sich kontinuierlich weiter. Ihr Arbeitsprozess war zyklisch: Mal liess sie Werke tagelang ruhen, mal zerstörte sie, was ihr nicht gefiel, um später daraus Neues zu schöpfen. Unzufrieden über eine Reihe von Zeichnungen, riss sie diese von der Wand und liess sie in ihrem Atelier liegen. Als sie Wochen später wieder ihr Studio betrat, war sie überrascht: «Da war vieles, was mein Interesse weckte. Ich begann zerrissene Teile meiner Zeichnung aufzusammeln, und klebte sie neu zusammen.» Neben Papier verwendet sie eigene und Pollocks Leinwandfetzen in ihren Collagen, wie etwa im ausgestellten Werk Bald Eagle (1955). Für die gross angelegte Ausstellung konnte das Zentrum Paul Klee eine Vielzahl von wertvollen Leihgaben aus 18 international bedeutenden Museen und Sammlungen gewinnen, welche in dieser Konstellation einmalig gezeigt werden. Darunter Werke des Metropolitan Museum, des Museum of Modern Art und des Whitney Museum of American Art in New York, des Hirshhorn Museum in Washington D. C. sowie der National Gallery of Victoria in Melbourne. Zudem werden 33 Werke aus amerikanischen Privatsammlungen gezeigt, die der Öffentlichkeit nur selten zugänglich sind.