Die sich im Wandel befindende Villa Flora bietet eine spannende und inspirierende Ausgangslage: Gemeinsam in ihrem Interesse, sich auf einen Ort oder Geschichtliches einzulassen, reagieren die Künstlerinnen in poetisch-spielerischer Manier mit ortsspezifischen Interventionen, Installationen und Videoprojektionen auf die Zeugnisse und Spuren der Vergangenheit und stellen die «grossbürgerliche Idylle» in ein neues Licht. Einzelne Werke werden zusätzlich im winterlichen Garten installiert.
Villa Flora | Aufhellung des Interieurs
Sieben Künstlerinnen bespielen die Villa Flora – sinnlich, poetisch, inspirierend und doch auch schalkhaft.
Eveline Cantieni (Video, Zeichnung, Stickerei, Installation) nimmt gern historische gewachsene Klischees und vermeintliche Gewissheiten aufs Korn; (Familien-)Geschichte ist ein wichtiger Fundus für ihr Schaffen und ist fasziniert vom Thema Medien und Handwerk.
Bei Ida Dober (Zeichnung, Installation, Objekte, Performance) bieten Phänomene des Wandels den Ausgangspunkt, die im Werkprozess von der zweidimensionalen Illusion bis hin zu subtilen Interventionen im Raum wachsen.
Theres Liechti (Video, Objekte, Zeichnung, Fotografie) zaubert mit ihren Filmen ein eigenes Universum, das gesellschaftliche Themen und das alltägliche Umfeld spiegelt.
Katharina Henking (Zeichnung, Papierschnitt, Installation, Fotografie) interessiert das Ambivalente und Vergängliche, lässt sich gern vom Zufall leiten und fügt in ihren luftigen Installationen Fundmaterial zu hybriden Gebilden zusammen.
Bei Georgette Maag (Video, Zeichnung, Fotografie, Performance) liegt das Interesse auf den Feinheiten und Nebensächlichkeiten des Alltags, die sie als geduldige Beobachterin in ihrer Umgebung einfängt und sich in verschiedenen Medien zu visueller Poesie verdichten.
Werke von Victorine Müller (performative Installation, Zeichnung, Skulptur) erscheinen als Phantasma, als Traumgebilde, überschreiten traumwandlerisch Grenzen und tauchen in andere Gedankenweiten ein.
Ursula Palla (Video, Installation, Skulptur) setzt sich in ihren multimedialen Werken mit dem Verhältnis von Natur, Kultur und Technik, Wirklichkeit und Künstlichkeit auseinander.
Die Ausstellung wurde dankend unterstützt von: Cassinelli-Vogel-Stiftung, Ernst Göhner Stiftung, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Kanton Solothurn, S. Eustachius-Stiftung, Stadt Winterthur, Stanley Thomas Johnson-Stiftung, Stiftung Erna und Carl Burgauer.
Inspirierender Umgang mit Zeit und Raum
Sieben Künstlerinnen haben sich der «Aufhellung des Interieurs» der Villa Flora verschrieben: keine Gemälde hängen an den Wänden, keine Grafiken und Arbeiten auf Papier sind zu sehen, Dreidimensionales, selbst wenn es aus Bronze ist, ist weit entfernt von klassischen Plastiken. Der inspirierende Umgang mit Zeit und Raum öffnet der Potenzialität die Tore und gewährt Wandlungsvorgängen eine Bühne, in der auch kritisch reflektierte Verhaltensweisen zu Protagonisten werden. Transformation und Vergänglichkeit bilden die zentralen Leitmotive für Eveline Cantieni, Ida Dober, Katharina Henking, Theres Liechti, Georgette Maag, Victorine Müller und Ursula Palla, die ihre Fühler tastend, grabend, schürfend, streichelnd und gestikulierend ausgestreckt haben, gepaart mit Humor, Poesie, Sensibilität, atmosphärischer Dichte und überraschender Courage. Es muss und darf auch mal unbequem werden, unausweichlich. Schade, wenn Kritiker, die selbsternannten, solche Werkauftritte oftmals über die Jahre – meist mangels tieferen Verständnisses – vorschnell mit Provokation abtun. Ausweichen ist nie produktiv. Produktiv sollte niemals mit provokativ verwechselt werden. Auch solche Gedanken gehören in das Umfeld der engagierten Ausstellung in Winterthur.
Die Suche nach Antworten
«C’est tout?» oder «C’est tout». Mit oder ohne Fragezeichen, als Frage oder Aussage interpretiert? Die Neonarbeit mit Ursula Pallas eigener Handschrift im Eingangskorridor flackert, keine Antwort ist in Sicht, höchstens ein Kurzschluss. Am Ende des Tunnels gibt es auch kein Licht, dort versperrt ein von Katharina Henking aufgetürmter Berg in impressionistischer Anmutung die Weitsicht. Die Anspielungen reichen in die verschiedensten Gebiete. Wann wird das Bedürfnis nach dem heute aktuellen Immer-Mehr endgültig zur ökologischen und sozialen Katastrophe? Was heisst es, wenn die Überproduktion in einem Abfallhaufen endet und sinnlos verrottet? Die Frage «War’s das?» mündet auch in künstlerische Selbstbefragung. Was oder wer bestimmt, was wert ist, gesammelt zu werden? Die Suche nach Antworten gleicht einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen. «C’est tout?», soll Pablo Picasso gefragt haben, als er das Ehepaar Hahnloser in der Villa Flora besuchte. Von ihm hat nie ein Gemälde in die Sammlung Eingang gefunden.
Das Auftrennen impliziert ein Ablösen
Einen Einklang im Sinne einer harmonischen Einheit zwischen Kunsthandwerker und Werkstück zu fördern, war ein zentrales Ziel der «Arts and Crafts Bewegung», zu deren Mitbegründern William Morris zählte. Von ihm stammt der Entwurf für die Tapete in der Bibliothek, auf der Eveline Cantieni künstlerischen Arbeitseinsatz als betont physisch wahrnehmbaren Kräftverzehr thematisiert. Traditionelle Handarbeitstechniken sind ein immer wiederkehrendes Arbeitsinstrument in ihrem Schaffen, das in der Regel von einem bemerkenswert hohen zeitlichen Arbeitsaufwand geprägt ist. Ein mit einer selbst gebastelten «Strickliesel» gleichsam «am laufenden Band» hergestellter Strickschlauch aus Sonnenschutznetz wird in ihrem Video von einer unsichtbaren Hand aufgelöst, doch die Auflösung kommt an kein Ende, das alles andere als geschmeidige Material setzt Widerstand entgegen, will, so scheint es, das aus ihm gefertigte Werk schützen. Das Auftrennen impliziert ein Ablösen, ein Loslassen und Loslassen- Können, welches auch den einstigen Bewohnern und Bewohnerinnen und den Stiftungsmitgliedern nicht leichtfallen dürfte. Wehmut paart sich oftmals mit der Erinnerung an Vergangenes.
Da sorgt Victorine Müller sogleich für Abhilfe. Ephemer, vorübergehend, visionär und ansteckend animiert sind die Zeichnungsvideos der Utopistin. Man hilft sich mit Begriffen wie «In-between-Wesen», auch auf «Drittwesen» kamen wir in einem betont offenen, suchenden Gespräch. Dies trifft auch auf ihre Bronzen zu und besonders auf ihre Luftgebilde aus PVC in der Veranda. Über Bezeichnungen wie «Erdlinge» oder «Keimlinge» sucht man sich der Lebendigkeit ihrer plastischen Luftwesen zu nähern, die, einsehbar in ihrer Transparenz, stets unerreichbar, ungreifbar bleiben. Die Bronzen schenken dem Berührungsdrang eine Form von Dauer. Ihre «Zukunftswesen» tragen gleichzeitig höchst verdichtete Ursprünglichkeit in sich. Die Augen senden Taststrahlen aus, die Ohren Fühlorgane. Vielleicht ist es die Nase, die schaut. Was entscheidend ist, ist die Resonanz, die sich bei den Betrachtern auslösen, die Worte dafür haben wir noch nicht. Victorine Müller gelingt es, Geistigkeit in die Spürbarkeit zu holen.
Ein ungefilterter Körpersound ertönt mal leiser, mal lauter aus dem Grafikschrank, wo Fotos aus der Familiengeschichte hinter einer textilen Verschleierung verklingen, entschwinden, verblassen, zunehmend ausgeblendet werden. Dabei grummelt und grollt, knurrt, rumpelt, gluckst, zischt und «windet» es weiter – wie aus einer gewissen Ferne wahrnehmbar, dabei physisch spürbar. Das enge Raumkompartiment mit seiner Wendeltreppe wird zur Metapher eines Verdauungstrakts. «Inneropera» heisst die Soundinstallation von Ida Dober, welche im Zusammenklang mit Georgette Maags Videoinstallation «Abgang» dezidiert auf körperliche Erfahrung fokussiert. In Uferlos-Abgründiges führt die verlängerte, mit einem roten Teppich belegte Wendeltreppe. Ob er wohl zum Einsatz gelangt, der Feuerlöscher, der neben dem teuflisch-roten Abstiegsschacht in die Ungewissheit hängt?
Einer begehbaren Wandmalerei
Abstieg folgt Aufstieg, ein endloses Auf und Ab. Im Video «Scalinata» kommt eine Choreografie des Zufalls ins Spiel. Längsgestreift ist die Tapete im Durchgangszimmer, regelmässig rhythmisiert – wie ein sanft modulierter Schwellengang. Ida Dober bleibt mit ihrem Arbeitstitel im musikalischen Bereich: «staccato» nennt sie ihre Ansammlung von langgewachsenen Ästen, wie in einem Depot sind sie an die Wand gelehnt. Sie erscheinen als Persönlichkeiten in einer begehbaren Wandmalerei. Was an den Stäben haften blieb, charakterisiert ihr Dasein. Ein theatralisches Moment spielt, etwas Bühnenbildartiges drängt hervor, ein Raum für geschichtsträchtige Rollen- und Machtspiele wird eröffnet, der Zeremonienmeister trägt mit Vorliebe eine Narrenkappe. Der Gedanke an Theater und Requisiten stellt sich auch bei Theres Liechtis mit schwarzem Stoff ausgelegtem Koffer und den darin leicht versinkenden fleischfarbenen Latexzungen ein. Der Koffer impliziert, er ruft nach einer Handlung, ohne dass man weiss, welcher Art sie sein wird.
Mit Zucker kann man sich die Finger verbrennen
Das wohl aktivste Handlungsgeschehen im Zeichen der Aufhellung spielt sich in der Tabu-Zone hinter der Türe zum WC ab. Mit lustvoller, triebhafter Gier schleckt sich ein monsterartiges Etwas geradezu in einen Rausch hinein, so gänzlich konträr zur wohlhabend-bürgerlichen Gepflogenheit des stückchenweisen Gebäckgenusses beim Kaffeekränzchen. Zucker war lange Zeit ein privilegiertes Gut und sehr teuer. Billiger wurde er erstmals in weiten Teilen durch Textil- und Sklavenhandel. Heute führt der allzu grosse Zuckergenuss unter anders gelagerten Vorzeichen zu gesellschaftlichen und gesundheitlichen Problemen. Mit Zucker kann man sich die Finger verbrennen. Aus gebranntem Zucker ist das Mobiliar in Ursula Pallas «Karamell-Zimmer». Mit den schwankenden Temperaturen wird sich die Einrichtung nach und nach auflösen und zu einer braunen Sauce gerinnen.
Zauberhafter Tanz
Das Zusammenwirken von Mäzenatentum und Inbesitznahme beschäftigt so manchen Kunstschaffenden und wird gern unter den Tisch gekehrt. Echte Freundschaften setzen ein Gegenüber auf gleicher Höhe voraus. Mit liebenswürdiger Schärfe bringt das Video «Schauen» von Theres Liechti diese Gedanken auf den Punkt. Mit der übergross projizierten Minihündin trifft sie ins Schwarze. Im abgedunkelten letzten Zimmer, einer Art Hinterzimmer, ist in Georgette Maags Video «Mouches volantes» das grosse Blenden, Überblenden bis hin zum totalen Ausblenden durch die sich auch zerstörerisch zeigende Kraft des Lichts angesagt. Mücken tauchen im Innern des Auges auf, Mückengesumme ist wahrzunehmen, Mücken sind keine im Raum.
Noch weisser wirken nun die beiden im Garten installierten Arbeiten, die von Aufbruch und Umzug erzählen, von Auslassungen und verborgenen Anlagen für neues Wachstum. Im Oberlichtsaal tanzen derweil die wesenhaften Gehänge von Katharina Henking weiterhin ihren zauberhaften Tanz. Die bleibenden Kräfte im Zuge der Vergänglichkeit sind die Stützen der Poesie. Katharina Henking gebührt als Kuratorin der Ausstellung ein besonderer Dank.
Text: Sabine Arlitt, Zürich, November 2020