Ein dunkler Raum, ein Datenspeicher, ein komplexes System, Ungewisses, Unsicherheit, aber doch oder zumindest vermeintlich Kontrollierbares, all das erwartet die Besucher*innen in Jos Näpflins neuer Ausstellung. Es ist die Begegnung mit einem Künstler, der seit den frühen 1980er-Jahren weitab von jeglichen Moden und Trends beharrlich seinen eigenen Weg geht.
Nidwaldner Museum Winkelriedhaus | Jos Näpflin – The Black Box Box
Die Black Box meint in der Systemtheorie allgemein ein Objekt, dessen innerer Aufbau oder Funktionsweise nicht bekannt oder nicht von Interesse ist. Im Flugwesen dient die «schwarze Kiste» als Speichergerät, das die verschiedenen Daten eines Flugs aufzeichnet und gerade bei der Aufklärung von Flugzeugunglücken wichtig ist. Kurzerhand erinnert der Titel auch an den bedeutenden Satz der amerikanischen Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein (1874–1946) «Rose is a Rose is a Rose…». Stein beschäftigte sich mit den Funktionen und der Symbolik von Wörtern. Sie glaubte, diese verwiesen auf nichts Anderes als auf sich selbst, die Wortwiederholung liesse sich unendlich fortführen.
Lebensdaten des Künstlers
Jos Näpflin (*1950 in Wolfenschiessen, NW) lebt und arbeitet in Zürich. Sein Schaffen wurde in verschiedenen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland präsentiert u. a. bei Counter Space Zürich (2017), Haus Konstruktiv Zürich (2016), sic! Elephanthouse Luzern (2015), Kunstmuseum Luzern (2015), sobering galerie Paris (2014), Aargauer Kunsthaus (2013), Benzeholz – Raum für zeitgenössische Kunst Meggen (2010). Näpflin wurde mehrfach ausgezeichnet, so etwa mit dem Eidgenössischen Preis für angewandte Kunst, dem Unterwaldner Preis für bildende Kunst und mehrmals mit einem Werkbeitrag für Bildende Kunst des Kantons. Jos Näpflin ist Preisträger des Werkjahres 2020 der Frey-Näpflin-Stiftung, welches zum ersten Mal verliehen wurde. Das mit CHF 50’000.- dotierte Stipendium beinhaltet im Anschluss an das Werkjahr eine Einzelausstellung im Nidwaldner Museum, die das künstlerische Schaffen und die im Lauf des Jahres entstandenen Arbeiten abbilden soll. Eine fünfköpfige Jury (Gabriela Christen, Annamira Jochim, Patrizia Keller, Edit Oderbolz, Stefan Zollinger) hat unter all den Bewerbungen Jos Näpflin ausgewählt. Weitere Informationen zum Stipendium: www.freynaepflinstiftung.ch
Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit
Erstanden ist ein reichhaltiges Werk, das sich in bildhaften, skulpturalen und installativen Anordnungen in unterschiedlichen Medien mit Raum, Wahrnehmung, Welt(-geschehen) und letztlich mit der Suche nach Identität auseinandersetzt. Stets greift der Künstler gegenwartsnahe brisante Themen auf, die im Lauf der Zeit noch an zusätzlicher Aktualität gewinnen können. Es sind grosse, allgemeine Fragestellungen, die aber bis ins Private reichen. In seiner aktuellen künstlerischen Praxis setzt sich Jos Näpflin insbesondere mit der Diskrepanz zwischen den Wörtern «Barmherzigkeit» und «Unbarmherzigkeit» auseinander. «Barmherzigkeit» – der Begriff scheint laut dem Künstler etwas aus der Zeit gefallen – gilt als eine der wichtigsten Tugenden in verschiedenen Weltreligionen. Dem Glaubenskontext entnommen, setzt Jos Näpflin mit den beiden Termini einmal mehr ein grosses Fragezeichen zum aktuellen Zeitgeschehen. Alle Arbeiten, die jüngst entstanden oder fertiggestellt wurden und in der Ausstellung in Stans zum ersten Mal zu sehen sind, kreisen um diese zwei Begriffe. Dabei klingen ebenso weiterführende Themen wie Demokratie, menschliche Existenz oder physische und psychische Grenzen an. Die «Black Box» meint in diesem Zusammenhang nicht nur ein komplexes System im technischen Sinn, sondern steht ebenso sinnbildlich für den Menschen oder die Gesellschaft als solches.
Modelle des Realen ohne Vorkommen in der Wirklichkeit
Seine Ideen entwickelt und konkretisiert Jos Näpflin in aufwendigen Arbeitsprozessen im Atelier mittels gezielt ausgewählter Materialien. Seien es Gebrauchsgegenstände – wie Wecker, Messer, Spanngurte – oder speziell angefertigte Objekte, sie alle werden in seinen Arbeiten zu Botschaftsträgern und führen bei den Betrachtenden nicht selten zu Irritationen. Es handelt sich um Modelle des Realen ohne Vorkommen in der Wirklichkeit. Die Titel, die er seinen Werken gibt, eröffnen dabei einen weiteren oder zusätzlichen Gedankenraum. So bewegt sich die Arbeit «Spiel Rekonstruktion (Diskrepanz 1956–2020)» zwischen Kampf und Hilfeleistung und lotet den Prozess der Identitätsbildung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter aus. «SPLITTEN», 2020, spricht formal einen möglichen Grenzzaum an, verweist darüber hinaus aber auch auf die eigene(n) persönliche(n) Grenze(n). «Schutzwolke», 2019, versammelt die Weltreligionen unter einem Dach, während «LOT», 2020, auch als Sinnbild für Demokratie verstanden werden darf.
Textgrundlage: Patrizia Keller, Nidwaldner Museum