«Matricule II.» widmet sich dem Nachlass der Genfer Künstlerin Linda Naeff, die traumatische Erlebnisse stets in knalligen Farben verarbeitet hat. Demgegenüber steht der «Mütter-Zyklus» von Maria Rolly in seiner Gesamtheit, flankiert von Werken aus der Museumssammlung von Adelheid Duvanel (1936–1996), Reni Blum (1934–2003), Berta Balzli (1920–2010) und Ulrich Bleiker (1914–1994).
Museum im Lagerhaus | Matricule II. | ÜberMütter
Eine Mehrfachausstellung mit Werken von Linda Naeff, Maria Rolly und vielen anderen Künstlerinnen.
Linda Naeff, ein bewegtes Leben
Es war stets ein aussergewöhnliches Erlebnis, Linda Naeff in ihrer Wohnung zu besuchen. Man trat in eine andere Welt ein. Lediglich ein schmaler Weg zog sich von der Tür zur Küche und bis zum Bett. Sonst war der Raum komplett gefüllt mit Kunst. Wo einst ein Esstisch oder ein Sofa standen, waren die Möbel vor ihrem Tod 2014 längst von den Werken überlagert – wie Moos, das wuchernd jeden Stein und jede Wand überzieht. Hier lebte Linda Naeff ihr Leben in der Kunst und für die Kunst.
1926 wird sie in Bagnolet in Frankreich geboren. Ihre Eltern leben im Konkubinat, der Vater ist bereits verheiratet. Für die damalige Zeit ist dies ein Skandal, dem das Paar entfliehen muss. Der Zweite Weltkrieg zwingt zur Rückkehr in die Schweiz. Die Familie bricht auseinander und die Kinder kommen zu verschiedenen Verwandten. Linda Naeff erfährt Erniedrigungen und Vergewaltigung. Mit ihrem Mann Jo zieht sie nach Genf und gründet selbst eine Familie. Zwei Töchter bringt sie zur Welt, fünf Söhne verliert sie in fortgeschrittener Schwangerschaft.
Linda Naeff ist ein Multitalent. Sie spielt Theater und in Revuen, sie schreibt und dichtet. 1987 beginnt sie zu malen, später auch plastisch zu arbeiten. Bis ins hohe Alter tätig, entstehen mehrere Tausend Werke: Kraftvolle Gemälde, Zeichnungen, Tonplastiken, die sie ohne Ofen nicht brennen kann, Objekte, Collagen, Assemblagen, Kästchen und bemalte Holzlatten in Serie. Sie verbindet sowohl Text und Bild als auch Lyrik mit Objekten und fügt unterschiedlichste Materialien zusammen. Ihre unbändige Fantasie kennt keine Grenzen. Dem rastlosen Schaffen liegt ihre tiefe Verwundung zugrunde, die sich in allen Arbeiten spiegelt. Als das Kind signiert sie ihr Werk: «LM II» – «Linda, Matricule II.» – die «Zweitgeborene», wie sie meist genannt wurde.
Maria Rolly und ihre abwesende Mutter
Maria Rolly kommt am 29. Oktober 1925 in Basel zur Welt, wo sie auch heute noch lebt. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie bei den Grosseltern und bei einer Tante. Niemals aber lebt Maria Rolly bei ihrer Mutter. Ihren leiblichen Vater kennt sie nicht. Der spätere Stiefvater ist ein ruhiger und hilfsbereiter Mann. 1951 heiratet sie den Basler Grafiker Hanspeter Rolly. Sie bekommen zwei Söhne. Mit 40 Jahren beginnt sie als Autodidaktin zu malen.
Schnell wird die Öffentlichkeit auf Maria Rollys naiv anmutende Malerei aufmerksam. Sie findet Eingang in Galerien und Sammlungen. «Naiv» malt die Künstlerin auch für die nächsten zwei Jahrzehnte. Ihr 16-teiliger «Mütter-Zyklus», den das Museum im Lagerhaus 2019 von ihr als Schenkung erhalten hat und der als solitäres Werk Rollys bezeichnet werden kann, entsteht erst 1988–1991. Es ist eine Werkreihe, die durch ihre Andersartigkeit hervorsticht. In ihr befasst sich Maria Rolly im Alter von 63 Jahren mit ihrer nie gelebten Mutter-Tochter-Beziehung. Zu diesem Zeitpunkt ist die Mutter der Künstlerin frisch verwitwet und selbst 82 Jahre alt. Diese Situation ist Auslöser, dass Rolly erstmals in ihrem Leben ins Gespräch mit ihrer nun vereinsamten Mutter kommt. Dabei erkennt die Künstlerin deren Unvermögen, Mutter zu sein. Rolly macht sich an die Aufarbeitung dieser Erkenntnis, indem sie 16 Mütter in grossformatigen Pastellkreide-Zeichnungen inszeniert. Jede verkörpert dabei unterschiedliche Formen von Mutter-Sein: von böse über liebevoll bis zu janusköpfig. Es ist ein Versuch, die eigene Mutter und ihr Handeln akzeptieren zu können und sich noch spät mit ihr auszusöhnen.