Die 1878 in Kreuzlingen geborene Helen Dahm gehört zu den Pionierinnen und Grenzgängerinnen der Schweizer Moderne. Doch bis heute blieb ihr Werk unterschätzt.
Kunstmuseum Thurgau | Helen Dahm
Werke aus der Spätromantik bis zum Action Painting
Die über 170 Werke umfassende Ausstellung «Helen Dahm – Ein Kuss der ganzen Welt» und das begleitend erscheinende Buch werden den Blick auf das Schaffen von Helen Dahm mit zahlreichen nie gezeigten Leihgaben verändern und erweitern. Denn Helen Dahm ist in mehrerer Hinsicht eine aussergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit.
Langes Künstlerinnenleben
Helen Dahms Schaffenszeit ist sehr lang und vielseitig: Die ersten erhaltenen Arbeiten stammen von 1898, die letzten aus ihrem Todesjahr 1968. Stets beschritt die Künstlerin neue Wege und experimentierte künstlerisch – mit Form, Material und Motiven. So spiegelt sich in ihrem Schaffen beinahe ein Jahrhundert Kunstgeschichte.
Die Walze
Zeitlebens traf Helen Dahm radikale Entscheidungen, um ihren Weg als Frau und Künstlerin zu verfolgen: Sie liess ihre Familie in Zürich zurück und ging 1906 gemeinsam mit ihrer Freundin in die damalige Kunstmetropole München. Dort lernte sie Gabriele Münter, Wassily Kandinsky sowie andere Künstlerinnen und Künstler des Blauen Reiters kennen. Diese Begegnungen und die Mitgliedschaft in der Künstlervereingung Die Walze, wie überhaupt das Kunstgeschehen in den turbulenten Jahren 1906 bis 1913, die Geburt der künstlerischen Moderne, prägten Dahms eigenes Schaffen entscheidend.
Leben auf dem Land
Zurück im akademisch und männlich geprägten Zürcher Kunstbetrieb, entstanden vom Jugendstil ausgehende Holz- und Linoldrucke, die tanzende Frauenakte zeigten. Um sich endgültig von kunstgewerblichen Zuschreibungen abzugrenzen, beschloss Helen Dahm Anfang der 1920er Jahre, sich gänzlich der Kunst zu widmen. Sie zog mit ihrer Lebensgefährtin Else Strantz in ein Bauernhaus nach Oetwil am See im Zürcher Oberland. Dieser Ausbruch in die Natur entsprach nicht nur ihrem Wesen, sondern auch dem Drang der damaligen Künstlergeneration, Inspiration und Freiheit ausserhalb der Städte zu suchen – sei es in Murnau oder in Künstlerkolonien wie Neu-Dachau, Worpswede oder Ascona. Helen Dahm suchte in der Natur des Schweizer Voralpenlandes nach einem naturnahen Leben und einem authentischen künstlerischen Ausdruck.
Bis nach Indien
1938 führte sie ihre Sinnsuche bis nach Indien, wo sie in einem Frauen-Ashram lebte. Zurück in Oetwil beschritt sie immer neue künstlerische Wege und erhielt schliesslich späte Anerkennung: 1954 wurde ihr als erster Frau der Kunstpreis der Stadt Zürich verliehen. Doch auch danach experimentierte Helen Dahm stets weiter und begann im Alter von knapp 80 Jahren, abstrakt zu malen.
Neue Sicht
Bis heute blieb Helen Dahms Werk unterschätzt. Ihr Landleben und ihre spirituelle Suche, die sich in religiösen Motiven niederschlug, hatten eine einseitige Wahrnehmung und «Schubladisierung» ihrer Bilder zur Folge. Das Ausstellungs- und Buchprojekt versucht, den Fokus zu verschieben und eine neue Wahrnehmung der Werke Helen Dahms zu erreichen. Abgelöst von der äusserst spannenden Lebensgeschichte ihrer Schöpferin, halten die Werke dem kunstgeschichtlichen Vergleich mit Zeitgenossen stand und weisen bisweilen visionär in die Zukunft.