Kurator Jonas Beyer bringt rund 120 Arbeiten von Käthe Kollwitz in einen Dialog mit fünf grossformatigen Werken Mona Hatoums – darunter vielbeachtete Werke wie «Cellules«, «Remains of the Day» oder «Worry beads». Verteilt über eine Fläche von 700 m2 im Chipperfield-Bau des Kunsthauses, werden die Installationen und Plastiken von Mona Hatoum in einzelnen Sektionen den Zeichnungen, Druckgrafiken und Plastiken von Käthe Kollwitz gegenübergestellt.
Im Kunsthaus Zürich treffen zwei ausdrucks- und willensstarke Künstlerinnen aufeinander
- Publiziert am 21. Juli 2023
Sie beziehen in ihren Arbeiten klar Stellung: Käthe Kollwitz (1867–1945) und die gebürtige Libanesin Mona Hatoum (*1952).
Rau und ungeschönt
In konservativen Kreisen als «Rinnsteinkunst» verschrien, sind die Zeichnungen, Drucke und Skulpturen der Künstlerin Käthe Kollwitz (1867–1945) so aktuell wie nie. Ihr mahnender Ausruf «Nie wieder Krieg» könnte angesichts zunehmender, bis nach Europa vordringender bewaffneter Konflikte nicht dringlicher sein. Geprägt von zwei Weltkriegen öffnete Kollwitz mit ihren Werken den Blick für das Elend und die Not ihrer Mitmenschen. Mit Empathie nahm sie sich in verschiedenen Medien ihrer Zeitgenossen in all ihren prekären Lebenssituationen an und schuf Werke, «die Wirkung in sich schliessen», wobei diese Wirkung bis heute nicht an Intensität verloren hat: So steht immer der Mensch, befreit von allem Anekdotischen oder Dekorativen im Mittelpunkt ihres Schaffens. Kompromisslos bringt sie ihn in all seiner Bedrängung und Ausgesetztheit zu Papier.
Annäherung einer Nachkommenden
Auch das Schaffen von Mona Hatoum (*1952), Trägerin des Roswitha Haftmann- Preises von 2004, kreist um Fragen gesellschaftlicher Nöte und
Konflikte. Die Arbeiten der in Beirut geborenen Künstlerin, die der Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon 1975 daran hinderte, nach einem Kurzbesuch in London in ihre Heimat zurückzukehren, erweitern in Form von Plastiken und Installationen die Ausstellung um eine globale Perspektive. Bereits in der Gruppenausstellung «Kollwitz neu denken» hat Hatoum sich dem Werk ihrer älteren Künstlerkollegin genähert. In der Ausstellung im Kunsthaus Zürich tut sie dies nun im Alleingang.
«Schmerz ist ganz dunkel»
Es ist auffällig, dass sich Kollwitz im Medium der Skulptur, vor allem aber in jenem der Zeichnung und Druckgrafik ausdrückte, während Werke in Öl nahezu gänzlich fehlen. Das puristische Element der Grafik und die Arbeit in den Kontrasten von Schwarz und Weiss sind es wohl, die aus Sicht der Künstlerin mit der Strenge und dem Ernst ihrer Motive am besten korrespondierten, zumal sie 1922 ebenso knapp wie einprägsam notierte: «Schmerz ist ganz dunkel». Auch Hatoum bedient sich einer reduzierten Formensprache und setzt Farbe allenfalls pointiert ein.
Massstab Mensch
Kollwitz bleibt auf figürlicher Ebene stets dem äusseren Erscheinungsbild des Menschen verpflichtet. Doch auch in Hatoums Installationen ist der Mensch zumindest als Massstab durchweg präsent. Und das in einem ganz konkreten Sinn: Hatoums Arbeit «Cellules» nämlich besteht aus mehreren stählernen Käfigen, wobei jedes Objekt eine unterschiedliche Grösse aufweist, alle aber auf eine menschliche Durchschnittsgrösse zugeschnitten sind. Senkrecht aufgestellt, neigen sich die Käfige leicht zur Seite, was einen Eindruck von Unsicherheit und Instabilität erweckt. Im Inneren jedes Käfigs befinden sich ein oder zwei amorphe rote Glasobjekte, ganz so, als wäre eine unspezifische Kreatur oder ein nicht näher benennbares Körperteil in seinem anthropomorphen Käfig gefangen. Dazu passt, dass «Cellule» im Französischen sowohl die körperliche Zelle als auch die Arrestzelle meinen kann.
Das Private und das Öffentliche
Beide Künstlerinnen zeigen, wie das Private immer auch als Teil eines grösseren gesellschaftlichen Ganzen zu verstehen ist. Hatoums Werk «Remains of the Day» etwa, das sie als Teil einer Serie im Kontext ihrer Hiroshima Art Prize-Ausstellung von 2017 entwickelte, erweckt den Eindruck, als sei gerade eine Katastrophe über das Haus einer Familie hereingebrochen. Kollwitz wiederum hat immer auch die Schicksale ihres eigenen Lebens, etwa den Verlust ihres Sohnes Peter während des Ersten Weltkriegs, in ihre Werke einfliessen lassen. Die Werke beider Künstlerinnen ergehen sich allerdings nicht in Resignation, sondern sind aktive Mahnungen gegen Leid und Unterdrückung.
(Textgrundlage: Kunsthaus Zürich)