Die umfassende Überblicksausstellung «Hannah Villiger: Amaze me» präsentiert neue Perspektiven auf das Schaffen dieser wichtigen Schweizer Künstlerin. Hannah Villigers (1951‒1997) grossformatige, auf Polaroidfotos basierende Werke leisten einen kunstgeschichtlich zentralen Beitrag zur Beschäftigung mit dem Körper- und Selbstbild. Zugleich lassen sich ihre Erkundungen des Körpers vor dem Hintergrund zahlreicher Gegenwartsthemen diskutieren.
Hannah Villiger beschäftige sich mit Körper- und Selbstbild. Das Muzeum Susch zeigt eine umfassende Ausstellung
Die Positionen der 1997 viel zu früh verstorbenen Künstlerin sind, in Zeiten in denen Gender und Ethnie heftig diskutiert werden, aktuell wie nie.
Hannah Villiger
Die Zuger Künstlerin Hannah Villiger wuchs in Cham als viertes von fünf Kindern auf. Nach ihrem Studium an der Kunstgewerbeschule in Luzern reiste sie durch Kanada, lebte und arbeitete am Istituto Svizzero in Rom, bevor sie sich in Basel niederliess. In Basel produzierte sie ihre ersten Schwarzweissfotografien, sowie Holz- und Plexiglasobjekte. Villiger erkrankte 1980 an offener Lungentuberkulose und verbrachte einen Monat in Isolation im Basler Kantonsspital, gefolgt von einem Sanatoriumsaufenthalt in Davos. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes hörte Villiger nicht auf zu arbeiten und ihre Werke auszustellen. Von 1981 bis 1982 unternahm sie zusammen mit Susan Wyss, mit der sie seit 1975 in einer Beziehung lebte, auf Weltreise. Anfang der 1980er Jahre entfernte sich die Künstlerin zunehmend von der klassischen Schwarzweiss- und Farbfotografie und begann mit Polaroid Kameras vor allem ihren eigenen Körpers zu erkunden. In Paris lernte sie 1988 Mouhamadou Mansour
(«Joe») Kébé kennen, mit dem sie 1991 einen Sohn bekam. Zwischen 1992 und 1997 unterrichtete Villiger an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Sie starb 1997 an Herzversagen.
Bereits zu ihren Lebzeiten wurden Villigers Werke in bedeutenden institutionellen Ausstellungen und Biennalen gezeigt, unter anderem der 22nd Bienal de São Paulo, Brazil (1994), der Kunsthalle Basel (1985), der 9th Biennale de Paris (1975) und der 1st and 3rd Biennale Schweizer Kunst (1971 and 1978), Kunsthaus Zurich. Posthume Einzelausstellungen fanden statt in der Kunsthalle Basel (2001); Kunsthalle Bonn (2001); nGbK Neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin (2002); MAMCO Musée d’art moderne et contemporain, Geneva (2007); Museum für Gegenwartskunst, Basel (2008); Centre Culturel Suisse, Paris (2012) und Istituto Svizzero di Roma (2021).
Hanna Villigers spektakulärer Blick auf den eigenen Körper
Die Ausstellung schlägt den Bogen von ihren in den 1970er-Jahren entstandenen Zeichnungen zu den Schwarz-Weiss-Fotografien und den Werken mit der Polaroidkamera, welche Villiger ab den 1980er-Jahren schuf. Diese fragmentarischen Nahaufnahmen ihres eigenen Körpers wurden, über ein Internegativ stark vergrössert und auf Aluminium aufgezogen, einzeln oder zu raumbezogenen Ensembles zusammengefügt. Resultat sind unendliche Möglichkeiten von teils spektakulären Blicken auf den Körper. Gezeigt werden Vintage Prints, bestehende, vielfach noch unbekannte Einzelarbeiten sowie sogenannte «Blöcke», grossformatige Assemblagen von bis zu 15 quadratischen Bildtafeln. Ein Teil davon wird in der Ausstellung in Susch erstmals zu sehen sein.
Gender und Ethnie – Bezug zur Gegenwart
Die Ausstellung erweitert den Blick auf Villiger um gegenwärtige Themen- und Fragestellungen. Im Fokus stehen etwa die Repräsentation des weiblichen Körpers, die Fremd- und Eigenperspektive auf die Physis, die Einordnung in den Mediendiskurs, Fragen von Oberfläche, Raum und Körper und die Objektivierung des Körpers. Die Haut – dort, wo der Mensch mit seiner Umwelt in Dialog tritt – stellt bei Villiger einen Schauplatz brisanter Fragestellungen nach Gender und Ethnie, Versehrtheit und Heilung dar. Der Körper ist das hauptsächliche Arbeitsmaterial der Künstlerin. Er begegnet uns abstrahiert oder dekonstruiert; kann menschlichen, aber auch pflanzlichen oder künstlichen Ursprungs sein. Obschon mit Villigers frühem Tod ihr Schaffen ein abruptes Ende nahm, weisen ihre Arbeiten ungebrochen in die Gegenwart.
Drei junge Künstlerinnen im Dialog
Die Aktualität von Villigers Werk wird unterstrichen durch den Einbezug von den zeitgenössischen Kunstschaffenden Alexandra Bachzetsis, Lou Masduraud und Manon Wertenbroek. Die jüngeren Künstlerinnen zeigen – verteilt auf den Ausstellungsrundgang – im Dialog mit Villiger thematisch verwandte Arbeiten und vertreten gleichzeitig starke Positionen des aktuellen Kunstschaffens. Die Künstlerinnen wurden aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit ähnlichen Themen wie denjenigen von Villiger ausgewählt. In Bachzetsis Videoinstallation «This Side Up», die in Zusammenarbeit mit Julia Born entstand, ist die Künstlerin zu sehen, die sich trotz begrenztem Raum in alle Richtungen bewegt, vergleichbar mit Villiger , die ihren eigenen Körper vor der Linse ihrer Polaroidkamera windet, dreht und verformt. Masduraud überdenkt mit Petrifying basin (kisses with the nymphs), einer skulpturalen Installation und kleinen Wandobjekten, auf spielerische und sinnliche Art das organische Leben neu und verankert mythologische Traditionen in der Gegenwart. Schliesslich thematisiert Wertenbroek mit einer Auswahl von Objekten die Grenzen zwischen der Haut und der sie umgebenden Welt und reflektiert Themen wie ent- und verhüllen.