Die multidisziplinäre Künstlerin wirft einen zeitgenössischen Blick auf traditionelles Kunsthandwerk, taucht in die Erzählungen aus ihrer Heimat ein und thematisiert die Einflüsse des Kolonialismus sowie das Fortbestehen des indigenen Erbes und der Gemeinschaften in der heutigen Zeit. Im grösseren Kontext hinterfragt Yee I-Lann in ihrem Schaffen die komplexe geopolitische Geschichte Südostasiens.
Eine malaysische Künstlerin mit klarer Botschaft
Das Kunstmuseum Thun präsentiert in jährlich drei bis vier Wechselausstellungen vorwiegend zeitgenössische Kunst. Neben thematisch und monografisch ausgerichteten Sonderausstellungen wird pro Jahr eine Sammlungsausstellung gezeigt, die einen Teil der reichen Bestände unter einem besonderen Blickwinkel präsentiert. Das älteste Sammlungswerk des Museums befindet sich im Thun-Panorama. Das erste schweizerische und weltweit älteste erhaltene Rundbild zeigt die Stadt Thun anno 1814. Der verglaste Erweiterungsbau des Thun-Panoramas wird für Veranstaltungen und weitere Ausstellungen genutzt.
Yee I-Lann Yee I-Lann (*1971, Kota Kinabalu, Sabah, Malaysisches Borneo) ist eine multidisziplinäre malaysische Künstlerin. Bekannt für ihr Schaffen, das Fotografie, Collage, Film, Weberei und das Arbeiten mit Alltagsgegenständen vereint, beschäftigt sie sich mit Themen wie Macht, Kolonialismus und Neokolonialismus in Südostasien. Die Künstlerin untersucht die Auswirkungen historischer Erinnerung auf die Gesellschaft von heute. Seit 2018 arbeitet Yee I-Lann im Bundesstaat Sabah mit indigenen Gemeinschaften zusammen.
Fasern und Fremdherrschaft
Gehen und immer weiter gehen, ohne klares Ziel vor Augen – so in etwa lässt sich MANSAU-ANSAU aus der Sprache der indigenen Stämme Kadazan und Dusun in Yee I-Lanns Heimat Sabah, Malaysia, übersetzen. Der Gedanke an diesen Gang ins Unbekannte kann einerseits verängstigen, besteht doch stets das Risiko, sich zu verirren. Genau gleich gross ist aber auch die Chance, Neues zu entdecken. In der Wanderausstellung, die von Dezember 2024 bis März 2025 im Singapore Art Museum (SAM) in Singapur zu sehen war, geht es vor allem darum, Themen wie Kunst und Kolonialismus aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Herzstück der Ausstellung MANSAU-ANSAU ist die aus Bambus geflochtene Matte als Grundlage zum Versammeln und Zusammensitzen. Sie symbolisiert einen Raum für Intimität und bietet in der Betrachtungsweise der Künstlerin eine Plattform für das Lokale, Demokratische, Feministische und die soziale Gleichheit. «Die Matte ist ein Ort zum Geschichtenerzählen und ein Weg, um neues Wissen zu entdecken», so I-Lann.
Kollaborative Projekte
Ihre enge Zusammenarbeit mit einem Weberinnenkollektiv aus ihrer Heimat ist für Yee I-Lann ein Mittel, um die Unterdrückung in Kunst und Handwerk sichtbar zu machen. Neben Textilien werden aber auch Fotografien, Videoarbeiten und Skulpturen gezeigt, die sich ebenfalls mit Themen wie kollektiver Neuordnung, Neuausrichtung und Imagination als Strategien für die persönliche und gemeinsame Zukunft beschäftigen. Dass sie die Namen ihrer Weberinnen stets auf die Bildetikette schreibe, unterscheide Yee I-Lann von vielen anderen Kunstschaffenden, die ihre textilen Werke etwa in Marokko oder Südamerika anonym weben lassen. Yee I-Lann hat einen Schweizer Bezug. Ihr Urgrossonkel war um die Jahrhundertwende Bergsteiger in Zermatt und liegt seit seinem tödlichen Absturz auf dem dortigen Friedhof begraben. Dass sie in Thun, in einer Umgebung, die «ähnliche Formen und eine ähnliche Kraft» wie ihre Heimat aufweist, ihre erste grosse Ausstellung in Europa präsentiert, geht aber auf eine Zufallsentdeckung zurück. Helen Hirsch, Direktorin des Kunstmuseum Thun und Kuratorin der Ausstellung, wurde 2022 an der Art Unlimited in Basel auf die malaysische Künstlerin aufmerksam.
Dekonstruktion und indigene Realitäten
Die Ausstellung umfasst Werke aus der Sammlung des Singapore Art Museum, darunter frühe Fotocollage-Serien (Sulu Stories, 2005), Picturing Power, 2013) sowie eine Reihe gewebter Arbeiten, von Batik auf Seide (Orang Besar Serie, 2010) bis hin zu gespaltenem Bambus (Tepo Putih, 2019), Tika-a-gagah, 2018–2019). In ihren zeit- und medienübergreifenden Werken zeigt sich Yee I-Lanns Engagement für die Dekonstruktion von Beziehungen und ihre Vielseitigkeit in der symbolischen und ästhetischen Darstellung. Wobei sich ihr Ansatz durch die Verwurzelung in materiellen und kommunalen, insbesondere in indigenen Realitäten auszeichnet.
(Textgrundlage: Kunstmuseum Thun)