Sie wächst und wächst: Die Sammlung des renommierten Kunsthauses zählt bereits über 20’000 Werke der Schweizer Kunst vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die aktuelle Ausstellung gewährt einmalige Einblicke in die Bestände der umfassendsten öffentlichen Sammlung und lädt zu lebendigen Begegnungen und Neuentdeckungen ein. Eine neues Augmented Reality Angebot ermöglicht vertiefende Blicke auf eine Auswahl der ausgestellten Werke.
Davor - Darin - Danach | Aargauer Kunsthaus
Mit der aktuellen Ausstellung reflektiert das Aargauer Kunsthaus die Vergangenheit, befragt die Gegenwart und wagt einen Blick in die Zukunft.
Davor – Darin – Danach
In drei Kapiteln spannt die Ausstellung über die gesamte Kunsthausfläche von 3000 m2 verteilt neue Erzählbögen. Dabei wird mitunter lustvoll mit vertrauten chronologischen Ordnungsprinzipien gebrochen. Einhergehend mit der Auseinandersetzung rund um Raum und Zeitlichkeit verweist der Titel zugleich auf installative Fragestellungen, die in vielen der präsentierten Kunstwerke angelegt sind. Bedeutende Neuzugänge treffen in ausdrucksstarker Setzung auf Schlüsselwerke der Gegenwartskunst seit den 1960-Jahren. Die Schau vereint Fotografie, Skulptur, Malerei, Video, Druckgrafik und Zeichnung mit raumgreifenden Installationen und ortsspezifischen Arbeiten, die für diesen Anlass neu geschaffen werden.
Überraschende Neuzugänge
Die Sammlung – das Fundament des Aargauer Kunsthauses – wächst dynamisch und vereint heute über 20’000 Werke der Schweizer Kunst vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Namhafte Schenkungen und Deposita – wie aus der Sammlung Ringier, der Bundeskunstsammlung, der Walter A. Bechtler-Stiftung oder von den Freunden der Aargauischen Kunstsammlung – haben in den letzten Jahren zur herausragenden Bedeutung der Sammlung in der europäischen Kunstlandschaft beigetragen. Diese Zugänge, darunter viele Arbeiten des zeitgenössischen Kunstschaffens, setzen frische Impulse und stellen überraschende Bezüge innerhalb der Bestände her.
Gang durch die Ausstellung
Marc Bauer (*1975) spürt in seiner raumgreifenden zeichnerischen Arbeit «Sphinx, 1931, 1935/1947» (2014/2022) dem historischen Vermächtnis des Schweizer Künstlers Karl Ballmer (1891-1958) nach, dessen Werk im Nationalsozialismus der 1930er Jahre als ‹entartet› klassifiziert wurde. Bauer thematisiert in seiner Installation das Erinnern an eine persönliche Vergangenheit, aber auch an das, was wir gemeinhin ‹die Geschichte› nennen. In Bauers Zeichnungen vermischen sich das Individuelle und das Allgemeine – private Fotos und Aufnahmen historischer Ereignisse werden auf der Bildebene überlagert. Was Fiktion ist und was Fakt, bleibt in der Schwebe, und so veranschaulicht das Werk, wie Geschichte ‹gemacht› wird. Dass die Geschichte zuweilen an die Abgründe des menschlichen Daseins führen mag, verdeutlicht auch Valérie Favres (*1959) künstlerische Annäherung an den selbstbestimmten Tod in den 33 bildgewaltigen Gemälden aus dem Zyklus «Selbstmord» (2003-2013). Ein ganz anderer Bruch mit dem Raum-Zeit-Gefüge wird in der cineastischen Videoarbeit «Eight» (2001) von Teresa Hubbard (*1965) und Alexander Birchler (*1962) sichtbar. Im Rundgang durch das Untergeschoss offenbart sich auf diese Weise die poetische Auseinandersetzung mit der kollektiven und zutiefst individuellen Gedächtnisleistung, die in der bildenden Kunst seit jeher vollzogen wird.
Im Erdgeschoss bekennt «Davor – Darin – Danach» auch Mut zur Lücke, und zwar wortwörtlich mit Urs Fischers (*1958) ortsspezifischer Wandintervention «The Intelligence of Flowers» (2003/2005), die ungewohnte Ein- und Durchblicke schafft. Zwei erstmals in Aarau präsentierte Schenkungen aus der Sammlung Ringier decken auf, wo Potenzial zur künftigen Sammlungserweiterung schlummert: So befinden sich neu mit der Neonarbeit «Glamour» (1996) oder dem Acrylgemälde «Does my butt look big in this?» (2003) wichtige Werke der Westschweizer Künstlerin Sylvie Fleury (*1961) im Haus. Hingegen ergänzt die begehbare Skulptur «The Dancer and the Dance» (2002) von Ugo Rondinone (*1964) das bereits stattliche Sammlungskonvolut des international bekannten Künstlers um eine weitere eindrückliche Raumchoreografie.
So treffen eine Fülle von Neuzugängen in überraschender Setzung auf zeitgenössische Schlüsselwerke aus der Kunsthaussammlung, wie Mai-Thu Perrets (*1976) begehbare, überdimensionierte Teekanne «Little Planetary Harmony» (2006). Shirana Shahbazi (*1974) wiederum kombiniert in «Untitled» 11- 2012 (2012) analoge Fotografien mit einer geometrisch-räumlichen Wandmalerei und lässt Besuchende ebenso in einen Bildraum eintreten. Auch in Christian Marclays (*1955) aufwendig animierter, gross angelegter Videoinstallation Surround Sounds (2014/15) taucht das Publikum in die Weiten einer lautmalerischen Bildwelt ein. Sie ist seit ihrer Erstpräsentation 2015 zum zweiten Mal in Aarau zu sehen. In diesen und weiteren Arbeiten im Erdgeschoss wird das zeit- und raumabhängige Darin auf besondere Weise erfahrbar.
Die Ausstellung bietet zudem eine feine Auswahl an Werken, die zum Wiederentdecken einladen und trotz ihres etwas weiter zurückliegenden Entstehungsdatums nichts von ihrer visionären Strahlkraft eingebüsst haben – allen voran Arbeiten von Balthasar Burkhard (1944-2010), Max Matter (*1941), Hans Schärer (1927-1997) und Hannah Villiger (1951-1997). Neben wichtigen Werken arrivierter Schweizer Kunstschaffender vereint die Ausstellung auch eine Vielzahl von Arbeiten einer jüngeren Generation, wie Seline Baumgartner (*1980), Taiyo Onorato (*1979) & Nico Krebs (*1979) oder Francisco Sierra (*1977), dessen Karriere ihre Anfänge unter anderem im Aargauer Kunsthaus nahm. Die grosse Sammlungspräsentation wird um zwei Gastbeiträge erweitert. Die Aargauerin Veronika Spierenburg (*1981) schafft für den Hof eine ephemere ortsspezifische Installation, und der Aktions- und Konzeptkünstler San Keller (*1971), ebenfalls mit Werken in der Sammlung vertreten, macht mit seinem Museum San Keller einen Zwischenhalt im Aargauer Kunsthaus, bevor es zukünftig als nomadisierendes Projekt auf Reisen gehen wird.