«Visions du Réel» – «Ansichten der Wirklichkeit» heisst das Filmfestival am Genfersee, das seit 2018 unter der Leitung von Emilie Bujès steht. Das lauschige Städtchen Nyon bietet dabei nicht nur einen exzellenten Einblick in das aktuelle Dokumentarfilmschaffen, sondern auch viel Atmosphäre und nah gelegene Kinosäle. 2022 zeigt das Festival rund 160 Filme aus 68 Ländern, Kurzfilme miteingeschlossen. Die Tickets des vom 7. bis 17. April dauernden Festivals können ab sofort online gekauft werden.
Visions du Réel | Zurück in die Zukunft
Endlich kehrt das Dokumentarfilmfestival zurück in die Kinos, wir geben einen ersten Einblick in das vielfältige Programm!
Das Filmfestival 2022
Text: Doris Senn
Visions du Réel lotet insbesondere die Vielfalt des Dokumentarischen aus, das sich mal poetisch, mal experimentell, mal essayistisch gibt und die schillernden Facetten vom lyrischen Porträt über Mockumentary bis zur Dokufiction umfasst. Im «Internationalen Wettbewerb» ist etwa «A Holy Family» von Elvis A-Liang Lu zu sehen, der seine Mutter in Taiwan besucht und dabei sehr einnehmend seine Familiengeschichte aufrollt, oder «Bitterbrush», ein etwas anderer Western der US-Regisseurin Emelie Mahdavian über zwei Cowgirls während eines Sommers in Idaho.
Pornos, Ufos und die Queen
Der «nationale Wettbewerb» umfasst 13 Filme, fast alle als Weltpremiere, fast alle von Newcomer:innen. Darunter etwa «Ardente-x-s» von Patrick Muroni über eine Gruppe junger Frauen in Lausanne, die «ethische und dissidente» Pornos realisieren – oder «Supertempo» von Daniel Kemény über das Paarleben des Regisseurs während Corona. Die Reihe «Burning Lights» wiederum fokussiert innovative Formate – etwa «Luminum» von Maximiliano Schonfeld als heitere Science-Fiction über zwei Ufologinnen, Mutter und Tochter, oder «Olho animal» von Maxime Martinot, einer Bildercollage mit in die Kamera schauenden Hunden. In den «Spezialvorführungen» werden starke Dokfilme ausser Konkurrenz gezeigt – etwa «Elizabeth», das royale Porträt von Roger Mitchell oder «Vedette», Anführerin einer Kuhherde und einen Sommer lang in der Obhut der Regisseurin Claudine Bories.
Marco Bellocchio
Ehrengast ist der Altmeister Marco Bellocchio, der mit seinen Werken immer wieder die institutionelle Gewalt hinterfragt – etwa die der Kirche in «Nel nome del padre» (1972) oder die der Psychiatrie in «Matti da slegare» (1975). Bellocchio, dem eine ausgewählte Retro gewidmet ist, wird ebenso eine Masterclass halten wie Spezialgast Kirsten Johnson, die als Kamerafrau an über 60 Dokfilmen mitarbeitete und daraus Aufnahmen kompilierte, die sie bis in die Gegenwart verfolgen («Cameraperson», 2016).
Zwei Programm-Highlights
Eröffnet wird das diesjährige Visions du Réel mit dem spektakulären «Fire of Love» von Sara Dosa über das Vulkanologenpaar Krafft, dem Werner Herzog bereits Hommage erwies. Den Abschluss macht der vielfach prämierte «The Earth Is Blue as an Orange» (2020) der Ukrainerin Iryna Tsilyk über Hanna und ihre Kinder in der Kriegsregion Donbas, die den tragischen Geschehnissen der Aussenwelt dank ihrer Leidenschaft für das Kino eine magische Innenwelt entgegensetzen.