Am 13. April 2024 findet eine Masterclass mit Alice Diop statt, die Frankreich bei den Oscars 2023 repräsentierte. Zusätzlich wird das Festival eine vollständige Retrospektive ihrer Filme zeigen. Diops Arbeit ist durch ihr Streben geprägt, einzigartigen Lebensläufen eine Gestalt zu verleihen. Indem die Regisseurin das Intime betrachtet, erforscht sie das Universelle.
Visions du Réel widmet sein Atelier 2024 Alice Diop
Gemeinschaften eine Stimme geben
Alice Diops Werk durchstreift geografische Räume, die auf den meisten Kinoleinwänden noch weitgehend unbekannt sind. Die Filmemacherin interessiert sich insbesondere für das Departement Seine-Saint-Denis, das vor den Toren der französischen Hauptstadt liegt. Dort ist Alice Diop aufgewachsen und genau dort macht sie sich auf die Spur, um an das Leben der Bewohner:innen der Vorstädte zu erinnern. Zwischen den Zeilen dekonstruiert sie das herrschende Narrativ, das den Pariser Vorstädten anhaftet – eine Darstellung, die oft aus einer Aussenperspektive und vor allem in Form von angsteinflössenden Bildern in den Nachrichten erfolgt. Ihr kohärentes Werk, das mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde, verleiht Gemeinschaften eine Stimme, die oft ignoriert oder sogar zum Schweigen gebracht werden, und betrachtet das Intime, um das Universelle zu erforschen. Ein zutiefst politischer Ansatz, der auch die physische wie symbolische Gewaltausübung durch öffentliche Institutionen in Frankreich dokumentiert.
Dimensionen des Alltags
Diops Werk ist von Referenzen durchzogen. Es enthält sowohl filmhistorische als auch literarische Elemente, welche die Trivialität des menschlichen Daseins widerspiegeln ‒ ob Fahrten mit der Regionalbahn, Gesprächen in einem Wettbüro oder Vorbereitungen in der Küche. Von scheinbarer Einfachheit geprägt, macht ihre Arbeit die Vorstadt zu einem Feld für filmische, semantische und soziologische Experimente. Die politische Dimension des Alltags offenbart sich nackt, unerträglich, in einer ebenso reflexiven wie kraftvollen künstlerischen Geste. «Es ist uns eine grosse Ehre, eine Persönlichkeit begrüssen zu dürfen, die eine neue Generation französischer Filmschaffender repräsentiert und mit ihrem Werk ein tiefgründiger Beitrag zur heutigen französischen Gesellschaft anregt», so Émilie Bujès, künstlerische Leiterin des Festivals.
Alice Diop – Werdegang und Filme
Nach einem Master in Geschichte an der Universität Panthéon-Sorbonne und einem DESS in visueller Soziologie schrieb sich Alice Diop im «Atelier documentaire de La Fémis» ein. Seit 2005 dreht sie Dokumentar- und Spielfilme, die auf internationalen Festivals gezeigt werden. Ihre Karriere begann, als sie in die Siedlung ihrer Kindheit zurückkehrte (die Cité des 3000 in Aulnay-sous-Bois) und dort ihren ersten mittellangen Dokumentarfilm LA TOUR DU MONDE (2006) drehte. Dann erkundete sie ein anderes intimes Territorium, indem sie drei Frauen aus ihrer Familie in LES SÉNÉGALAISES ET LA SÉNÉGAULOISE (2007, 2008 bei Visions du Réel gezeigt) porträtierte. Seitdem ist Seine-Saint-Denis der Schauplatz der meisten ihrer Werke: CLICHY POUR L’EXEMPLE (2006), LA MORT DE DANTON (2011), RER B (2017)sowie der Film VERS LA TENDRESSE (2016), der 2017 mit dem César für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde und beim Festival du Moyen métrage de Brive den ersten Preis gewann.
Internationale Anerkennung
Diops erster Langfilm LA PERMANENCE (2016), der in einer Abteilung des Avicenne-Krankenhauses in Bobigny gedreht wurde, verschaffte ihr internationale Anerkennung, insbesondere weil sie darin eine ebenso präzise wie geduldige Methode zur Erfassung der Aussagen von Exilant:innen einsetzt, die sie aufsuchen, um sich beraten zu lassen. Mit ihrem zweiten Spielfilm NOUS, der 2021 veröffentlicht und im gleichen Jahr ebenso bei Visions du Réel gezeigt wurde, trifft die Regisseurin auf die unterschiedlichsten Menschen, die entlang der Strecke der RER B leben – von den Teilnehmern an einer Jagd im Chevreuse-Tal bis zu den Bewohnern von La Courneuve. Für diesen Film gewann sie im selben Jahr den Encounters Award bei der Berlinale sowie den Preis für den besten Dokumentarfilm, der den besten Dokumentarfilm dieses Festivals in allen Bereichen auszeichnet.
Soziales Engagement
Als eine Künstlerin, die sich auch jenseits der Leinwand engagiert, stiess sie 2021 in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris und den Ateliers Médicis in Clichy-sous-Bois die Initiative zum «idealen Filmarchiv der Vorstädte dieser Welt» an. Diese Initiative bietet ein monatliches Programm mit Begegnungen und Filmvorführungen, um die «Einzigartigkeit der filmischen Ansätze zu zeigen, die üblicherweise unter dem Sammelbegriff ‚Banlieue’ laufen». Im Jahr 2022 gelang Alice Diop mit dem Film SAINT OMER ein brillanter Übergang vom Dokumentar- zum Spielfilm. Dieser Spielfilm – Ergebnis einer umfangreichen Recherche und inspiriert von einem 2013 geführten Prozess wegen Kindsmordes –, erschütterte Publikum und Kritiker. Er gewann den Silbernen Löwen und den Goldenen Löwen der Zukunft sowie ein Dutzend weiterer Preise auf zahlreichen internationalen Festivals, bevor er Frankreich bei den Oscars 2023 repräsentierte.