In sieben kurzen Fragen verrät uns Niccolò Castelli was ihn zum Regisseur macht, wieso es an den Solothurner Filmtagen keinen Roten Teppich braucht und was die Vielfalt des diesjähren Filmprogramms ausmacht.
Sieben Fragen an Niccolò Castelli
- Publiziert am 4. Januar 2023
Die 58. Ausgabe der Solothurner Filmtage ist die erste unter der künstlerischen Leitung des Tessiner Regisseurs
1) Noch 2021 durfte Ihr zweiter Spielfilm «Atlas» die Solothurner Filmtage eröffnen, nun sind Sie als neuer künstlerischer Leiter selbst in der Position, das Programm dieser so wichtigen Schweizer Filmschau zu gestalten. Wie ist das für Sie?
Für mich war es eine grosse Ehre, die Solothurner Filmtage zu eröffnen und zu wissen, dass ich alle Ecken der Schweiz erreiche, ausgehend von einer Rand- und Minderheitenregion wie der meinen. Es war eine Freude, aber auch eine Verantwortung, die wir mit dem Produzenten, der Cast und der Crew des Films übernommen haben: Menschen schenken dir 90 Minuten ihrer Zeit, um sich eine Geschichte erzählen zu lassen, das ist nicht selbstverständlich. Und heute haben wir die Möglichkeit, zusammen mit allen Beteiligten eine Woche lang eine Geschichte zu erzählen. Es ist grossartig.
2) Was hat Sie persönlich zum Medium Film gebracht?
Ich habe es schon immer geliebt, Geschichten zu erzählen. Als Kind habe ich mit meinen Brüdern und meinem Nachbarn Videos gedreht, aber auch Radiosendungen und Musik gemacht. Ich sage nicht, dass ich Filme mache, weil ich ein Regisseur bin, sondern ich bin ein Regisseur, weil ich Filme mache. Und nun kommt die Fortsetzung. Es gefällt mir als künstlerischer Leiter der Solothurner Filmtage diese Geschichten zusammen mit dem gesamten Team und allen Fachleuten des Schweizer Kinos an die Öffentlichkeit zu bringen.
3) Als Regisseur haben Sie auch die Filmbranche im Ausland kennengelernt, wie unterscheidet sich diese im Vergleich zur einheimischen. Welche Rolle spielen Filmfestivals wie die Solothurner Filmtage?
Ich habe festgestellt, dass die Möglichkeit, Filme zu machen, heute viel demokratischer geworden ist. Nicht jedoch die Möglichkeit, sie an das Publikum zu bringen. Ein Film mit einem kleinen Budget ist heute in der Lage, eine hohe erzählerische, technische, visuelle und auditive Qualität aufzuweisen. Der Unterschied zeigt sich also eher in der Sprache, der Geschichte, der schauspielerischen und somit auch der künstlerischen Komponente. Filme mit kleinem und mittlerem Budget haben es jedoch schwer, ein Publikum zu finden. Mittelgrosse Festivals wie die Solothurner Filmtage können in dieser Hinsicht eine sehr wichtige Rolle spielen. Sie sind ein Ort des Austauschs und eine horizontale Bühne, wo das Publikum auf diejenigen trifft, die Filme ohne aufwendiges Marketing machen. Es sind Orte, an denen jede Art von Film die Chance hat, seine Qualitäten zu zeigen und die Leute zum Diskutieren zu bringen. Auf grossen Festivals verschwinden die sogenannt kleinen Filme hinter den Stars des Roten Teppichs. An den Solothurner Filmtagen gibt es diesen Roten Teppich nicht. Filmemacher:innen müssen den Raum mit der Qualität ihres Films erobern und ihrer Fähigkeit, ihre Leidenschaft zu vermitteln. Als Produzent oder Regisseur eines Films würde ich mir genau überlegen, welche Strategie ich für den Vertrieb meines Films möchte und dabei diese Aspekte berücksichtigen.
4) In Ihrer Ankündigung des Festivalprogramms erwähnen Sie Tendenzen im Schweizer Film, die Sie anhand der über 600 eingereichten Filme ausgemacht haben. Erzählen Sie uns mehr darüber und auch, wie Sie die Filmauswahl letztlich getroffen haben.
Die Filme werden von der Auswahlkommission ausgewählt, in der ich zusammen mit dem Filmtage-Programmteam und den Schweizer Filmschaffenden Mitglied bin. Uns ist sofort aufgefallen, dass es in diesem Jahr viele Filme gab, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Welt auseinandersetzen wollten, mit dem, was die Gesellschaft mit Kriegen, Geschlechterfragen, der Rolle der Frau in der Gesellschaft, Radikalisierung, Klimawandel und so weiter durchmacht. Das Schweizer Kino will Teil des Diskurses sein, den Finger in die Wunde legen und dem Publikum einen künstlerischen Blick, einen Austausch bieten. Ausserdem finde ich es sehr interessant, dass die Autor:innen der neuen Generation mehrere Wurzeln und Identitäten haben: Sie sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen, haben aber oft mindestens ein Elternteil, das aus einem anderen Land stammt. Das bringt einen interessanten Einblick in unsere Identität und die Rolle, die das Schweizer Kino für unsere Sicht auf die Welt und uns selbst spielt.
5) Das diesjährige Festivalformat «Im Atelier» ist dem Prozess des Filmschaffens gewidmet und Sie gehen noch einen Schritt weiter: Das Motto heisst «Zwischen Bühne und Leinwand». Welche Synergien versprechen Sie sich davon?
Film und Theater lassen sich nie losgelöst voneinander betrachten. Angefangen beim Schauspiel, der Inszenierung, Dramaturgie, Narration und vielem mehr. Während der Pandemie boten der Film und seine Verbreitungstechnologien Theaterschaffenden eine Chance, ihre Stücke weiterleben zu lassen. Gleichzeitig werden die Filmsprachen zunehmend auf der Theaterbühne eingesetzt. Heute stellen wir fest, dass sich immer mehr Projekte an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Kunstbereichen entwickeln. Für unsere Veranstaltungsreihe «Im Atelier» haben wir zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie können die darstellenden Künste das Medium Film auf innovative Weise nutzen? Zweitens: Wie bringt man ein Theaterstück kreativ auf die Leinwand? Was dabei rauskommt? Ich finde es wichtig, dass die Filmtage ein Ort sind, an dem man die Tür zu anderen Künsten öffnen und die Filmsprache der Zukunft voranbringen kann.
6) Welche Ziele haben Sie sich für die Programmierung des Festivals gesetzt, auch Rückblicken auf die Erfahrung, die Sie in den letzen Monaten sammeln durften?
Ich würde mir wünschen, dass die Filmtage ihre Rolle als Ort des Austauschs zwischen den Filmemacher:innen, dem Publikum und den beteiligten Institutionen zunehmend stärken. Wir befinden uns mitten in einer grossen Veränderung, da neue Akteure in unseren Markt eintreten. Das wird eine grosse Herausforderung für die Zukunft sein.
7) Welchen Film sollte keine:r in der kommenden 58. Ausgabe der Solothurner Filmtage verpassen (oder danach dringend nachholen)?
Ich würde empfehlen, etwas Unbequemes zu sehen, etwas, das man nicht kennt. Und man sollte sich überraschen lassen. Das Filmprogramm der 58. Solothurner Filmtage bietet eine Chance, Teile des eigenen Landes oder der eigenen Identität in einem neuen Licht zu sehen. Das Schweizer Kino beweist seine Vielfalt und zeigt, dass es ganz unterschiedliche Gefühle hervorrufen kann.